Dies war eine Seite seines Berufs, die er verabscheute. Und so hatte er, wenn er schon einen Teil seines freien Wochenendes aufgeben musste, das sein gehobener Rang ihm eigentlich garantierte, keine Veranlassung gesehen, seine Zeit damit zu verbringen, der Autopsie von Andrew Penhallow beizuwohnen. Er hatte Pearce hingeschickt.
»Ich kannte Penhallow«, hatte Markby erklärt.
»Ich wäre nur ungern dabei, wenn er aufgeschnitten wird.«
Pearce hatte düster dreingeblickt. Niemand sah gerne bei einer Autopsie zu, obwohl üblicherweise wenigstens einer der ermittelnden Beamten anwesend war. Letztlich hatte Pearce pflichtergeben der grausigen Angelegenheit beigewohnt und sich nun wahrscheinlich irgendwohin verzogen, um seine Niedergeschlagenheit mit Hochprozentigem zu vertreiben. Markby war erst hinterher gekommen, um in Erfahrung zu bringen, was der Pathologe herausgefunden hatte.
»Welch ein seltener Gast in diesen Gemäuern«, begrüßte ihn Dr. Fuller jovial.
»Wir sind wohl zu hochrangig für das schmutzige Geschäft, eh?«
Markby murmelte eine Entschuldigung und fügte hinzu, dass er persönlich mit dem Opfer bekannt gewesen sei.
»Ihr Opfer hatte einen ganz bemerkenswert dünnen Schädel«, erklärte Dr. Fuller munter. Er war stets gut aufgelegt, ein richtiger Sonnenschein. Zu Markbys unausgesprochener Erleichterung legte er das Skalpell beiseite und zog anschließend seine dünnen Gummihandschuhe aus.
»Sehr interessant. Ich habe so etwas schon ein paar Mal gesehen, aber es ist selten, ja, sehr selten, würde ich sagen.« Er winkte Markby zu sich.
»Kommen Sie, sehen Sie sich das an …«
»Schon gut«, sagte Markby in dem Bewusstsein, dass er kleinmütig und verzagt klang. Doch Fuller wollte ihm etwas zeigen, das Markby nicht sehen wollte, und da Markby kein Mediziner war, würde er es wohl auch nicht begreifen.
»Es reicht mir allemal, wenn Sie es sagen, Doc. Also waren die Schläge auf den Schädel die Todesursache?«
»Ja.« Fuller blickte den Superintendent über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Sie haben interessante Abdrücke hinterlassen. Einer an der linken Schläfe. Er war ganz besonders sauber. Der Abdruck hat eine sehr ungewöhnliche Form, und ich wage nicht zu sagen, was ihn verursacht haben könnte, außer, dass es ein schwerer Gegenstand gewesen ist. Diese Spuren verschwinden manchmal wieder, deswegen habe ich den Polizeifotografen kommen lassen, damit er ein paar Aufnahmen anfertigt, bevor ich etwas anderes gemacht habe. Die Bilder sind dort drüben. Kommen Sie, sehen Sie sich das an.« Er wirbelte herum und marschierte davon. Fotografien waren unpersönlich, und es machte Markby nichts aus, sie anzusehen. Er folgte dem Pathologen erleichtert in ein kleines, unordentliches Büro. Auf dem Schreibtisch lagen verschiedene Nahaufnahmen von Penhallows Wunden. Markby beugte sich über die Abzüge.
»Sie sind noch nicht ganz trocken, nicht anfassen«, warnte Fuller.
»Wie Sie ziemlich deutlich erkennen können«, fuhr er fort und deutete mit einem Kugelschreiber auf die entsprechende Stelle,
»das hier ist der Abdruck der Tatwaffe, und hier … und hier.« Er deutete auf weitere Fotos.
»Ja, soweit kann ich folgen.« Markbys professionelles Interesse drängte jeden Anflug von Unwohlsein zurück. Das war nicht der eingeschlagene, blutige Schädel eines Mannes, mit dem er als Kind zur Schule gegangen war. Das waren nur Beweise, sonst nichts. Der eigenartige Abdruck, von dem Dr. Fuller gesprochen hatte, war eine runde Vertiefung, durchsetzt mit kleinen, blutigen Löchern … oder wenigstens sah es für Markby danach aus, und so fragte er den Pathologen:
»Sie sagen, Sie wüssten nichts damit anzufangen, und mir geht es genauso. Haben Sie keine Idee, was diese Abdrücke verursacht haben könnte?« Dr. Fuller zuckte die Schultern.
»Leider nein, wie schon gesagt, es war ein schwerer Gegenstand, und er hatte, wie es aussieht, ein Muster. Der Schlag wurde mit genügend Schwung ausgeführt, um einen Abdruck auf der Haut zu hinterlassen. Vielleicht ein Ornament? Irgendein Gärtnerwerkzeug? Sie sind der Gartenliebhaber, Markby – fällt Ihnen nichts ein?«
»Nichts, jedenfalls im Moment.« Markby betrachtete das Bild aus zusammengekniffenen Augen. Er legte es beiseite und nahm den zweiten Abzug zur Hand, auf den Fuller seine Aufmerksamkeit gelenkt hatte.
»Konnten Sie vielleicht feststellen, welcher Schlag der eigentlich tödliche war?«, fragte er.
»Normalerweise würde ich gesagt haben, entweder der Schlag gegen die Schläfe oder von oben auf den Hinterkopf«, antwortete er vorsichtig.
»Doch angesichts des ungewöhnlich dünnen und zerbrechlichen Schädelknochens könnte auch jeder der anderen tödlich gewesen sein. Sämtliche Schläge haben beträchtliche innere Verletzungen und Blutungen verursacht.«
»Was ist mit seinen Händen?«, fragte Markby, indem er die Fotos auf den Schreibtisch zurücklegte und sich aufrichtete.
»Ich konnte keinerlei Verletzungen an seinen Händen erkennen.«
»Das ist zutreffend. Er scheint sich nicht gewehrt zu haben. Trotzdem liefern die Proben von seinen Fingernägeln gewisse Informationen. Bis jetzt haben wir Erdboden gefunden, den das Labor wahrscheinlich als aus dem Garten stammend identifizieren wird, und eine Spur von einer blassblauen Faser, die sich die Jungs aus dem Labor noch genauer ansehen müssen.«
»Erdreich …« Markby runzelte die Stirn.
»Also ist er wahrscheinlich gestürzt und hat die Hände in den Boden gekrallt in dem Versuch, sich aufzurichten?«
»Vielleicht ist er auch ein kurzes Stück weit gekrochen, in benommenem Zustand«, erwiderte Fuller.
»Konnten Sie Blutspuren um den Leichnam herum finden?« Markby seufzte.
»Der Boden war zu hart für Abdrücke, aber das Gras war plattgetrampelt. Zuerst von seiner Frau, die ihn gefunden hat, und dann von der Haushälterin, die hinzukam und weitere Spuren hinterließ. Und schließlich vom Hausarzt der Penhallows, der von der Haushälterin herbeigerufen wurde, um die hysterische Witwe zu versorgen. Er hat einen Blick auf den Leichnam geworfen, obwohl er sagt, er hätte peinlich darauf geachtet, keine Spuren zu zerstören, was ich ihm glaube. Doch das Gras war bereits ziemlich niedergetrampelt, und er hat sicherlich selbst ein paar Abdrücke hinterlassen. Wir fanden keinerlei Blutspuren in unmittelbarer Nähe der Leiche, aber vielleicht sind sie an Schuhsohlen haften geblieben und verschleppt worden.« Er stockte und nahm sich vor nachzuprüfen, ob die Schuhe des Arztes, der Haushälterin und Carlas Pantoffeln untersucht worden waren.
»Haben Sie gelbe Fasern gefunden?«, fragte er unvermittelt.
»Gelbe? Nein, nur blaue.« Fuller runzelte die Stirn.
»Weshalb?«
»Wir fanden an einer anderen Stelle gelbe Fasern. Nun ja, einstweilen danke, Doc. Ich erwarte dann Ihren Bericht. Er war körperlich gesund, würden Sie sagen?«
»Für sein Alter, ja.« Fuller nickte.
»Obwohl sich Hinweise auf ausgeprägten Bewegungsmangel und zu viele zu gute Mahlzeiten finden. Der dünne Schädel, das war allerdings reines Pech. Penhallow hat es wahrscheinlich nicht einmal gewusst, wie leicht verwundbar er war, meine ich.« Verwundbar, dachte Markby. Keiner von uns weiß, wie verwundbar er ist. Und doch hätte sich Penhallow mit seinem verworrenen Privatleben eigentlich verwundbar fühlen müssen. Oder hat er geglaubt, er könnte bis in alle Ewigkeiten mit den Elementen seines Doppellebens jonglieren? Penhallow war ein intelligenter, erfolgreicher Mann gewesen. Vielleicht sogar arrogant. Zumindest sehr dumm, indem er unterschätzt hatte, wozu seine Tochter imstande war. Er hätte in Kate das eine Element erkennen müssen, das sich seiner Kontrolle entzog.
»Seine Achillesferse«, sagte er laut.
»Mit seinen Füßen war alles in Ordnung«, erwiderte Dr. Fuller pedantisch.
»Es war sein Kopf.«
»Nein, ich meinte … oh, Entschuldigung. Könnte eine Frau, sagen wir, eine junge Frau, diese Wunden verursacht haben?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, sagte Fuller.
»Früher hieß es, die Waffe einer Frau sei Gift, doch heutzutage …« Er stockte, dann fügte er entschlossen hinzu:
»Nicht, dass ich mir vorstellen könnte, eine meiner Töchter würde so etwas tun.« Genau das Gleiche hatte der unglückselige Penhallow wahrscheinlich auch gedacht. Die Frage war – hatte er sich geirrt? Markby fuhr über stille Nebenstraßen zum Bezirkspräsidium zurück und ließ die Autobahn mit ihrem brausenden Verkehr links liegen. Selbst auf den Landstraßen herrschte dieser Tage normalerweise starker Verkehr, doch Markby hatte Glück; er begegnete nur wenigen anderen Fahrzeugen. Der Frühling kam spät in diesem Jahr. Eigentlich hätten die Hecken schon austreiben müssen, doch sie wirkten immer noch nackt und leblos. Noch war nirgendwo Grün zu sehen, und noch nagten die Schafe entschlossen und ein klein wenig verzweifelt an kahlem Geäst. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Schatten, einen Sperber, der am Himmel kreiste. Er fragte sich, ob dieser Jäger Glück haben würde. Er passierte die Einfahrt eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes. Ein handgemaltes Schild am Straßenrand listete verschiedene Früchte und Gemüse, die die vorbeifahrende Kundschaft zu günstigen Preisen erwerben konnte. Sämtliche Erzeugnisse waren biologisch angebaut, hieß es darunter. Das ist neu, dachte Markby. Noch vor wenigen Jahren galten biologische Produkte als unwirtschaftlich, und jetzt sieht jeder die Erlösung in ihnen. Der Gedanke führte ihn zu seiner Schwester Laura und ihrer Familie. Wie Markby selbst, so hatte sich auch Laura für das Gesetz entschieden, doch für ein anderes Gebiet. Sie war Partnerin in einer bekannten Anwaltskanzlei. Ihr Ehemann Paul schrieb Kochbücher, gab Kochunterricht und machte Sendungen über das Kochen. Was der Grund dafür war, dass das Schild, das Markby soeben passiert hatte, eine Erinnerung in ihm wachrief. Paul war schon lange ein Verfechter von selbst angebautem Gemüse, doch in letzter Zeit hatte sich sein Interesse auf alles
»Grüne« ausgeweitet, er hatte sogar einen
»grünen« Lebensstil angenommen. Mit dem Resultat, dass Paul auf den Drahtesel umgesattelt hatte und nun beharrlich auf seinem Rad in Bamford herumkurvte. Markbys persönliche Meinung dazu lautete, dass Paul eine Gefahr auf der Straße darstellte, doch er fühlte mit ihm. Wie als Antwort auf seine Gedanken tauchte hinter der nächsten Kurve eine exzentrische Gestalt auf einem Fahrrad auf, die mit gesenktem Kopf in die Pedale trat und einen MiniAnhänger hinter sich herzog, eine Kiste auf Rädern, die mit einem geschwungenen Arm am Rahmen des Fahrrads befestigt war. Grinsend tippte Markby die Hupe an und überholte den einsamen Radler. Ein Stück weiter vorn steuerte er in einen Feldweg, stieg aus dem Wagen und wartete. Wenige Minuten darauf tauchte ein gelber Fahrradhelm über einer Lenkstange auf. Das Gespann erreichte Markby und hielt an. Der Träger des gelben Helms hob das rote, verschwitzte Gesicht und ächzte:
»Hallo Alan! Was machst du denn hier draußen?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, entgegnete Markby.
»Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du warst einkaufen.«
»Sie haben dich nicht ohne Grund zum Superintendent gemacht, wie?« Paul stieg vom Fahrrad und lehnte es gegen das Feldgatter, das den Weg von der Straße abriegelte.
»Komm und sieh dir an, was ich eingekauft habe!« Markby folgte seinem Schwager zu der rot gestrichenen Kiste auf Rädern. Paul klappte schwungvoll den Deckel auf und erklärte:
»Da!«
»Karotten«, stellte Markby fest.
»Pastinaken. Und Brokkoli.« Paul nahm ein schmutziges Gemüse aus der Kiste und tätschelte es liebevoll.
»Du wirst das bestimmt zu schätzen wissen, Alan, wo du doch selbst Hobbygärtner bist. Heutzutage kann jeder, der ein Stück Garten besitzt, sein eigenes Gemüse anbauen!«
»Ja, aber ich habe keinen richtigen Garten, nur einen Patio«, erinnerte Markby seinen Schwager, während er verdrießlich auf den Inhalt der roten Kiste starrte.
»Meine einzige Anbaufläche sind Blumentöpfe in einem Treibhaus. Es ist mir ein Rätsel, wieso jedermann zu glauben scheint, dass ich ein Experte bin!«
»Du hast wunderbare Tomaten gezogen in diesem Treibhaus, letztes Jahr«, sagte Markbys Schwager großzügig. Er legte das Gemüse zurück, klappte die Kiste wieder zu und richtete sich auf.
»Hast du nicht Lust, zum Abendessen zu kommen, zusammen mit Meredith?«
»Nicht dieses Wochenende, Paul, tut mir Leid. Ich habe derzeit eine Menge zu tun.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch Markby hatte beschlossen, Meredith an diesem Abend schick auszuführen und ihr etwas Besonderes zu bieten, quasi als Wiedergutmachung für das verlorene Wochenende.
»Wahrscheinlich der Penhallow-Fall, oder?« Paul nickte.
»In der Stadt kursieren wilde Gerüchte, dass er ein Bigamist gewesen sein soll.«
»Die Gerüchte sind, jedenfalls soweit ich weiß, falsch«, sagte Markby.
»Er hat nur ein einziges Mal geheiratet. Allerdings hat er zwei Familien gehabt.«
»Wenn du mich fragst, hat er sich damit höchstens doppelten Ärger eingehandelt«, sagte Paul.
»Der Mann muss ja richtig süchtig gewesen sein nach Bestrafung! Wie wäre es dann mit nächstem Samstag? Frag doch Meredith, ob sie Lust hat.«
»Mache ich. Tut mir Leid, dass ich dich nicht mitnehmen kann oder dir mit deinem Einkauf helfen, aber ich bin auf dem Rückweg zum Präsidium.«
»Oh, mach dir deswegen keine Gedanken, Alan«, erklärte Paul großmütig und machte Anstalten, sich wieder auf sein Fahrrad zu schwingen.
»Ich bin schneller zu Hause, als du glaubst.« Markby stieg ein und fuhr davon. Im Rückspiegel wurde der gelbe Helm kleiner und kleiner, bis er schließlich ganz verschwand. Unzufriedenheit breitete sich in Markby aus. Es gab noch etwas anderes im Leben, außer der Polizeiarbeit. Er fragte sich, ob er jemals eine Gelegenheit erhalten würde, sich daran zu erfreuen.
Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Leben schien an diesem Morgen Sergeant Prescotts Schicksal zu sein. Bei seiner Ankunft im Bezirkshauptquartier fand Markby ihn vor dem Haupteingang, wo er überlebensgroß und düster an einer Zigarette schmauchte.
»Ich bin überrascht, dass ein sportlicher Typ wie Sie am Glimmstängel hängt«, sagte Markby.
»Sollten Sie nicht Kate Dragos Geschichte überprüfen?«
Prescott trat seine Zigarette mit dem Absatz aus und blickte düsterer drein als je zuvor.
»Jawohl, Sir, ich bin auf dem Weg. Ich habe auf der zuständigen Wache angerufen, ich meine die Wache, die ihrem Wohnsitz in London am nächsten liegt, und sie überprüfen die Wohnung für mich. Ich habe ihr eine Straßenkarte vorgelegt, und sie hat mir die Stelle gezeigt, wo sie ihrer Meinung nach in den Laster gestiegen ist. Ich fahre jetzt gleich hin. Sie wartet übrigens oben.« Prescott deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Sie ist vor ungefähr einer halben Stunde gekommen und … äh, sie hat ihren Anwalt dabei.«
»Das war schnell!«, staunte Markby.
»Er ist entweder gleich als Erstes heute Morgen hergefahren oder in den Frühzug gestiegen.«
»Wenn Sie mich fragen, Sir, dann ist er von der ganz schnellen Truppe«, grollte Prescott düster.
Kate Drago saß im Korridor auf einem Stuhl, der von einem schmalen Streifen Sonnenlicht aus einem Oberlicht angestrahlt wurde. Sie trug nicht ihre Partykleider, sondern Jeans und eine dazu passende Jacke, die beide alt aussahen, aber es wahrscheinlich nicht waren. Markby wusste von seiner Nichte, dass gebraucht aussehende Kleidung gegenwärtig der letzte Schrei war. Entweder hatte Mr Green die Sachen mitgebracht, oder die junge Frau war im Besitz einer Kreditkarte. Sie hatte behauptet, über kein Geld zu verfügen, doch das konnte auch bedeuten, dass sie kein Bargeld mit sich führte. Oder es war Teil ihres Plans gewesen, ihren Vater dazu zu bringen, für ihre Unterkunft und Verpflegung aufzukommen. Markby sah zu ihren Füßen hinab, die in schicken schwarzen Schnürstiefeln steckten. All die neuen Sachen oder das Geld dafür mussten irgendwoher gekommen sein. Er fragte sich, wie gut Kate Drago tatsächlich im Lügen war. Sie machte einen gefassten Eindruck. Ihre prachtvolle Mähne war zu einem Knoten hochgesteckt. Vereinzelte Strähnen rahmten ihre blassen, starren Gesichtszüge ein. Für Markby sah sie aus wie eine Statue, wie sie dort saß, ohne sich zu bewegen, ohne irgendetwas zu sehen oder zu hören.
Ganz im Gegensatz zur Unbeweglichkeit seiner Mandantin marschierte Frederick Green den Gang auf und ab. Der Anwalt war offensichtlich schlechter Laune. Markby war neugierig gewesen, ihn kennen zu lernen, und nun, da er ihn gesehen hatte, verstand er Prescotts schlechte Stimmung. Green war jung, nicht älter als dreißig, und alles an ihm strahlte Selbstvertrauen und Leidenschaft aus. Er musste früh aufgestanden sein, um seine Reise nach Bamford anzutreten, doch sein Aussehen hatte darunter keinesfalls gelitten. Seine Haare, ein wenig lang, waren zweifelsohne von einem Meisterfriseur geschnitten. Ganz gleich, wie oft er den Kopf wandte, die Locken bewegten sich kaum und fielen stets an den richtigen Platz zurück. Der Anzug war italienisch, ein Designermodell, und die Schuhe handgemacht. Selbst sein Aktenkoffer, der neben Kate auf einem Stuhl ruhte, glänzte wie frisch poliert. An seinem Gesichtsausdruck erkannte Markby, dass Green sich in einem Nest von ländlichen Trotteln wähnte und geringe bis keine Erwartungen hegte, was Effizienz oder auch nur rudimentäre Kenntnisse des Gesetzes anging.
Das änderte sich schlagartig, als er Markby bemerkte. Misstrauen und Vorsicht gewannen die Oberhand über Arroganz und Dünkel.
»Guten Morgen, Miss Drago«, wandte sich der Superintendent zuerst an die junge Frau.
»Wie geht es Ihnen heute?« Sie bewegte den Kopf leicht und musterte ihn mit einem flüchtigen Blick.
»Wie es zu erwarten steht angesichts der Tatsache, dass mein Vater ermordet wurde, ich eine grauenhafte Nacht auf einer zerlumpten Matratze über geborstenen Federn verbracht habe und nun hier sitze und darauf warte, von Ihnen und Ihren Lakaien verhört zu werden.« Bevor Markby antworten konnte, war Green vorgetreten und sah seine Mandantin mit hochgezogenen Augenbrauen an, um ihr zu bedeuten, dass sie nur dann reden sollte, wenn er ihr die Erlaubnis gab. Dann erst wandte er sich dem Neuankömmling zu.
»Superintendent Markby, nehme ich an? Green …« Er streckte Markby die Hand entgegen. Markby ergriff sie. Der Anwalt hatte einen festen Händedruck. Er mochte vielleicht nicht besonders groß sein und ein Modenarr, doch er war ein kräftiger, durchtrainierter junger Mann. Wahrscheinlich ging er in ein Fitnesscenter. Er sah gut aus, doch er erinnerte Markby zugleich an ein Raubtier. Kein Wunder, dass Prescott nach seinem Eintreffen nach draußen gegangen war, um sich eine Zigarette anzustecken und seine Nerven zu beruhigen. Green war ein Rivale.
»Bevor wir anfangen, möchte ich sagen, dass meine Mandantin und ich Ihnen zu Dank verbunden sind, weil Sie Miss Drago nicht über Nacht in Gewahrsam genommen haben. Wir wissen dies zu schätzen«, sagte er. Markby hatte damit gerechnet, dass Kate Dragos Anwalt als Erstes zu erfahren verlangte, warum man sie beide unnötig hatte warten lassen. Er blinzelte überrascht. Green war, trotz seines Namens, alles andere als grün hinter den Ohren.
»Kein Problem«, erwiderte Markby tonlos.
»Wir wussten schließlich, wo wir Miss Drago finden konnten.« Kate murmelte ein paar weitere abfällige Bemerkungen über das Crown, doch nach einem tadelnden Blick von Green verstummte sie. Es verriet Markby einiges über diesen jungen Mann, wenn er imstande war, diese aufsässige, temperamentvolle Frau so gut zu kontrollieren.
»Wollen wir in mein Büro gehen?«, fragte Markby und deutete mit der Hand den Gang entlang.
»Hat man Ihnen bereits Kaffee oder Tee angeboten?« Falls Green das Höflichkeitsspiel spielen wollte, dann konnte es nicht schaden, zunächst mitzuspielen. Ohne Zweifel war es eine Strategie, mit der Green seine erste Frage vorbereitete. Sie gingen in Markbys Büro, wo alle Platz nahmen, und tranken Tee.
»Wenn Inspector Pearce das Gebäude betritt, bitten Sie ihn, gleich zu mir zu kommen«, sagte Markby zu dem Beamten, der den Tee brachte. Kate nahm ihren Styroporbecher und hielt ihn mit beiden Händen fest, als wollte sie sich daran wärmen. Green betrachtete seinen eigenen Becher voll Entsetzen und machte keine Anstalten, ihn auch nur anzufassen.
»Miss Drago«, begann er,
»ist sehr unglücklich, wie Sie sich bestimmt denken können. Sie hat einen schockierenden Trauerfall unter schrecklichen Umständen erlebt und trotzdem gestern voll mit Ihnen kooperiert und all Ihre Fragen freimütig beantwortet.« Er legte eine Kunstpause ein und sah Markby an, doch der Superintendent schwieg. Schließlich fuhr der Anwalt fort:
»Sie hat während der Nacht ununterbrochen über die Angelegenheit nachgedacht …«
»Ich habe nicht ein Auge zugetan!«, sagte Kate.
»Ganz recht.« Ein neuerlicher warnender Blick.
»Und obwohl sie sich das Gehirn zermartert und die Geschichte wieder und wieder von allen Seiten beleuchtet hat, sind ihr keine weiteren Einzelheiten eingefallen, die Ihnen weiterhelfen könnten. Sie hat Ihnen, kurz gesagt, alles erzählt, was sie weiß.«
»Das glauben die Leute meistens«, konterte Markby.
»Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie wenig dem Verstand in Augenblicken des Stresses entgeht. Meist kommt später alles wieder zum Vorschein.«
»Aber jetzt ist nicht später«, sagte Green.
»Es ist erst einen Tag her. Ich glaube nicht, dass irgendetwas damit gewonnen ist, sie so früh nach dem Schock erneut zu befragen, nicht wahr?« Markby legte die Stirn in Falten und sah Green an. Der Anwalt errötete und fuhr hastig fort:
»Wenn ich recht informiert bin, haben Sie Kleidung meiner Mandantin in Verwahrung genommen. Dürfte ich den Grund dafür erfahren?«
»Selbstverständlich«, sagte Markby.
»Die Spurensicherung wirft einen Blick auf die Sachen. Das ist angesichts der gegebenen Umstände völlig normal.«
»Haben Ihre Beamten denn etwas gefunden?«, stürzte sich Green auf Markbys Aussage.
»Ich denke nicht, dass sie inzwischen bereits Gelegenheit dazu hatten.« Markby wandte sich an Kate.
»Ich bin froh zu sehen, dass Sie einstweilen geeignete andere Kleidung gefunden haben.«
»Freddie hat den größten Teil mitgebracht.« Sie zupfte an ihrer Jeansjacke.
»Ich hab die Stiefel heute Morgen gekauft, mit meiner Karte. Eine Ausgabe, die ich mir gerne erspart hätte!« Green war die Bedeutung der Tatsache, dass Markbys Leute die Kleidung seiner Mandantin sichergestellt hatten, sicherlich nicht entgangen. Trotzdem wechselte er nun das Thema.
»Was Fußabdrücke angeht, so möchte ich daran erinnern, dass meine Mandantin das Haus zweimal besucht hat. Beide Male ist sie um das Haus herum zur Hintertür gegangen. Außerdem war der Vater meiner Mandantin lebendig und unverletzt, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hat, Superintendent.«
»Und wann war das?« Markby sah Kate an, doch Green antwortete für sie.
»Als sie ihn durch das Küchenfenster gesehen hat, bei ihrem zweiten, kurzen Besuch. Er war dabei, eine Wärmflasche mit heißem Wasser zu füllen. Das ist nicht gerade die Verhaltensweise eines verletzten, verängstigten Mannes.«
»Sind Sie sicher, Miss Drago, dass Sie bei dieser Gelegenheit nicht mit Ihrem Vater gesprochen haben?«, fragte Markby.
»Sie haben nicht seine Aufmerksamkeit geweckt, indem Sie an die Fensterscheibe geklopft haben? Sie sind ganz sicher, dass er Sie nicht gesehen hat?«
»Er hat mich nicht gesehen«, sagte sie dumpf.
»Ich habe nicht an das Fenster geklopft. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich bekam Angst und lief weg.«
»Verständlicherweise«, unterbrach Green aalglatt.
»Miss Drago bekam es mit der Angst zu tun, weil sich allem Anschein noch jemand im Garten hinter dem Haus herumtrieb. Ich nehme an, Sie verfolgen diese Spur?« Es klopfte an der Tür, und alle zuckten zusammen. Markby hielt seine Antwort zurück und rief sein Herein. Die Tür wurde geöffnet, und Inspector Pearce trat ein. Die Befragung wurde kurz unterbrochen, während Markby Green mit dem Inspector bekannt machte. Green mag ein intelligenter, fähiger junger Anwalt sein, dachte Markby, doch er hat noch eine Menge zu lernen. Sein Gesichtsausdruck beispielsweise, als er Pearce abschätzte, verriet Markby deutlich, dass er Dave als unwichtig abtat. Freddie Green gab sich nur mit dem Chef persönlich ab.
»Um zum Thema zurückzukehren«, fuhr er fort, nachdem Pearce sich gesetzt hatte,
»meine Mandantin hat Ihnen gesagt, dass sie das deutliche Gefühl hatte, nicht mehr allein in diesem Garten zu sein, sondern von jemandem beobachtet zu werden, als sie dort an dem Küchenfenster stand.«
»Ja, das hat sie«, stimmte Markby zu. Er lehnte sich zurück, während er überlegte, wie Green die Legende von dem puritanischen Gespenst aufnehmen würde. Nicht gut, dachte er. An Kate gewandt sagte er:
»Sie können diese Person immer noch nicht genauer beschreiben, von der Sie glauben, sie hätte sich im Garten aufgehalten?«
»Ich habe sie ja eigentlich nicht gesehen, ich habe nur ihre Gegenwart gespürt … und ich glaube, eine Gestalt gesehen zu haben, eine Person, die ungefähr, warten Sie … zweimal so weit von mir entfernt stand, wie dieses Zimmer hier breit ist.« Kate stockte und fügte dann schwach hinzu:
»Ich hatte Angst.«
»Wie Sie doch wohl sehr gut verstehen werden!«, warf Green ein. Er räusperte sich.
»Superintendent, ist es wirklich nötig, Miss Drago in Bamford festzuhalten? Sie würde gerne nach London zurückkehren. Es wäre ein Leichtes für sie, wieder nach Bamford zu kommen, sollten Sie sie benötigen. Sie würde in ihrer Wohnung bleiben. Sie haben Ihre Adresse, glaube ich? Sie ist an einem College eingeschrieben und versäumt Vorlesungen. Sie hat nur ein Minimum an Gepäck mitgebracht, und sie hat anderweitige Verpflichtungen.«
»Und ich«, antwortete Markby freundlich,
»ich habe einen Mordfall zu lösen. Falls es Sie tröstet, diese Angelegenheit hat mein Wochenende ebenfalls durcheinander gebracht. Ich sehe ein, dass sich Miss Drago in einer misslichen Lage befindet, doch unglücklicherweise liegt es in der Natur unserer Ermittlungen, Menschen Unannehmlichkeiten zu bereiten. Für den Augenblick muss ich sie leider bitten, in Bamford zu bleiben.«
»Was denn, ich soll noch länger in diesem grauenhaften Hotel wohnen?«, platzte Kate heraus. Green ging mit erhobenen Händen dazwischen und redete leise und beruhigend auf sie ein. Dann wandte er sich zu Markby um.
»Haben Sie etwa vor, Anklage gegen meine Mandantin zu erheben?«
»Wir warten das Ergebnis der forensischen Untersuchungen ab. Wir planen nicht, irgendjemanden vor den Haftrichter zu zerren, bevor wir nicht ein wenig mehr in Erfahrung gebracht haben.«
»Wenn das so ist«, sagte der Anwalt kühl,
»dann können Sie meine Mandantin auch nicht daran hindern, nach London zurückzukehren.«
»Nein«, räumte Markby ein.
»Aber es sieht unkooperativ aus, wenn ich abreise?«, warf Kate herausfordernd ein. Ihre Stimme troff vor Verachtung.
»Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen. Mach dir keine Mühe, Freddie. Es sieht danach aus, als müsste ich hier bleiben, bis die Sache ausgestanden ist.«
»Das musst du nicht!«, sagte er vehement und funkelte Markby an. Er fing sich rasch wieder, doch Markby hatte einen Blick hinter die Maske geworfen, und dieser Blick hatte ihm verraten, dass unter der geschliffenen Schale dieses jungen Mannes ein Straßenschläger steckte. An Kate gewandt sagte er:
»Sie müssen selbstverständlich nicht in Bamford bleiben, Miss Drago. Wir würden es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie es dennoch täten. Möglicherweise ergeben sich Fragen, die einer dringenden Antwort bedürfen, oder Sie müssen Gegenstände identifizieren. Wir wissen es noch nicht. Es wäre alles andere als hilfreich, wenn Sie meilenweit weg in London wären.« Er richtete den Blick wieder auf den Anwalt.
»Miss Drago ist freiwillig zu uns gekommen, um ihre Aussage zu machen, und das wissen wir zu schätzen. Aber falls wir es für hilfreich erachten, können wir sie ohne richterlichen Haftbefehl vierundzwanzig Stunden lang in Gewahrsam nehmen, und falls ich entscheide, dass es erforderlich ist, kann ich diesen Zeitraum auf sechsunddreißig Stunden ausdehnen. Danach erst ist die richterliche Bestätigung erforderlich, wie Sie sicherlich wissen.«
»Und ich zweifle nicht daran«, sagte Green gehässig,
»dass Sie einen Richter kennen, der Ihrem Ersuchen stattgibt … Also schön, Kate.« Er wandte sich seiner Mandantin zu.
»Du bleibst besser noch ein paar Tage hier. Wenn sie dich während dieser Zeit erneut befragen wollen, ruf mich an, und ich komme gleich her. Vergiss nicht, du beantwortest ihnen nicht eine einzige Frage, bevor ich bei dir bin!«
Nachdem die beiden das Gebäude verlassen hatten, sagte Pearce zögernd zu Markby:
»Ich denke immer noch, Sir, dass wir sie über Nacht in Gewahrsam hätten nehmen sollen, als wir noch eine Chance dazu hatten. Bevor dieser kleine schleimige Kläffer hergekommen ist. Sie ist unsere Hauptverdächtige.«
»Es war meine Entscheidung«, gab Markby ärgerlich zurück, um dann ein wenig ruhiger hinzuzufügen:
»Vielleicht haben Sie Recht, Dave. Doch ich spekuliere darauf, dass sie sich kooperativer verhält, solange wir sie auf freiem Fuß lassen.«
»Die beiden denken sich irgendetwas aus, dieser Anwalt und die Drago«, brummte Pearce.
»Vermutlich wird sie letzten Endes genau das tun, was er ihr sagt. Sie scheint ihn als einen Freund zu betrachten.«
Markby schnaubte.
»Haben wir inzwischen das Ergebnis der Fingerabdrücke am Griff der Küchentür und den Lichtschaltern?«
»Haben wir. Fehlanzeige. Auf beiden Lichtschaltern finden sich Abdrücke von Mrs Penhallow und Mrs Flack, wie zu erwarten war, und sonst nichts. Die Hintertür weist Abdrücke von Mrs Penhallow, Mrs Flack und Dr. Pringle auf.« Pearce zögerte, als er Markbys Stirnrunzeln bemerkte.
»Halten Sie das für wichtig?«
»Es wäre schön gewesen, ein paar andere Abdrücke als die des Doktors und der Familienangehörigen zu finden. Beispielsweise die von Kate Drago oder irgendjemand Fremdem. Aber es gibt nicht einmal einen verschmierten Fleck, der auf eine behandschuhte Hand hindeutet, genauso wenig wie Bemühungen, die Abdrücke wegzuwischen … Verstehen Sie, Penhallow ist nach draußen in den Garten gegangen, um nach jemandem zu suchen. Er hatte eine Wärmflasche dabei, aber keine Lampe. Wir können meiner Meinung nach davon ausgehen, dass der Grund das ausreichende Licht war, das hinter ihm durch die offene Küchentür fiel und die unmittelbare Umgebung erhellt hat. Als jedoch Mrs Penhallow heute Morgen nach unten kam, war das Licht ausgeschaltet und die Tür verschlossen. Also hat es irgendjemand ausgeschaltet und die Tür ordentlich wieder geschlossen. Es muss der Mörder gewesen sein. Ein die ganze Nacht lang brennendes Licht wäre vielleicht bemerkt worden und hätte Aufmerksamkeit erweckt. Jemand, der aus dem Schlafzimmerfenster sieht, hätte Andrews Leichnam auf dem Rasen gesehen. Das ist der Grund, aus dem das Licht ausgeschaltet wurde.«
»Es sind einfache Kippschalter«, gab Pearce zu bedenken.
»Man kann sie mit dem Ellbogen betätigen. Was die Küchentür angeht – falls es Fingerabdrücke gab, dann waren sie spätestens weg, nachdem Mrs Penhallow die Tür aufgesperrt hat und die Haushälterin und der Arzt rein und rausgelaufen sind. Keine Chance.«
»Zeigt eine gewisse Voraussicht auf Seiten des Killers«, sinnierte Markby.
»Wer es auch war, er ist nicht in Panik geraten.«
»Dieses Mädchen«, sagte Pearce dunkel.
»Sie ist eine kühle Person. Sie würde nicht in Panik geraten. Sie würde bestimmt nicht vergessen, das Licht auszuschalten und die Tür zu schließen.«
»Sehr wahrscheinlich«, räumte Markby widerwillig ein.
»Haben Sie herausgefunden, ob irgendjemand sonst im Garten gewesen ist? An der Stelle, an der Kate jemanden gesehen zu haben behauptet?«
»Wir fanden ein paar abgebrochene Zweige an einem Rosenbusch, doch es lässt sich nur schwer feststellen, wann sie abgeknickt wurden.« Zögernd fügte Pearce hinzu:
»Vielleicht waren wir es selbst, als unsere Männer das Grundstück abgesucht haben. Sie wissen ja, wie das ist, Sir.« Er riss sich zusammen und fuhr fort:
»Diese Kate Drago hat eine blitzschnelle Auffassungsgabe. Sie musste irgendeinen Grund anführen, der ihre Behauptung untermauert, weggelaufen zu sein. Also behauptet sie einfach, sie hätte jemanden gesehen. Was könnte näher liegen? Selbstverständlich kann sie diesen Jemand nicht näher beschreiben. Wenn er – oder sie – so schwer zu erkennen gewesen ist, dann wette ich zehn zu eins, dass diese ›Person‹, wenn sie denn tatsächlich etwas gesehen haben sollte, ein Busch oder ein Schatten vom Haus im Mondlicht war.«
»Oder das Gespenst?«, murmelte Markby. Pearce warf seinem Chef einen nervösen Blick zu. Er war nicht sicher, ob der Superintendent einen Witz gemacht hatte oder allmählich vergreiste. Markby war der zweifelnde Gesichtsausdruck nicht entgangen.
»Vergessen Sie nicht, dass Mrs Flack bereits mehrfach eine unheimliche Präsenz im Garten gemeldet hat. Wenn wir nicht davon ausgehen, dass es ein Gespenst war, dann könnte es doch sein, dass jemand das Haus über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg beobachtet hat. Die Frage lautet: Warum?«
»Sie war es«, sagte Pearce und bereitete damit jeglicher Spekulation ein Ende.
»Dauernd werden irgendwelche Leute von ihren Familienangehörigen umgebracht. Er wollte nicht tun, was sie von ihm verlangt hat, sie verlor die Nerven und griff ihn an. Ich wette einen Zehner darauf …«
Es hätte Pearce sicherlich interessiert, die Konversation zu belauschen, die zur gleichen Zeit in der Abgeschiedenheit von Freddie Greens Wagen stattfand.
»Es tut mir Leid, Kate«, sagte der junge Mann. Er drückte den Schlüssel ins Zündschloss, doch er startete den Motor noch nicht. Stattdessen drehte er den Kopf zur Seite und sah sie an.
»Schon gut, Freddie, du hast dein Bestes getan, und ich bin dir wirklich dankbar.« Kate verschränkte die Hände im Schoß.
»Wie ich bereits da drin gesagt habe, ich muss in Bamford bleiben und es hier durchstehen.«
»Ja …« Der Motor blieb immer noch stumm. Green wand sich unbehaglich und blickte um einiges weniger selbstsicher drein als zuvor.
»Hör zu, Kate, wahrscheinlich wäre es keine schlechte Idee, wenn ich kurz Rücksprache mit Sir Montague Ling halte, sobald ich wieder in London bin.«
Sie starrte ihn schockiert an.
»Du meinst den Strafverteidiger? Du suchst beruflichen Beistand?«
»Nein, nein, nichts Formelles!«, versicherte er ihr hastig.
»Der alte Bursche ist ein Freund der Familie, ein Intimus meines Vaters. Ich könnte einfach … na ja, ich meine, ich könnt ihm deine Lage schildern und …« Sie lief dunkelrot an vor Empörung.
»Du glaubst, dass sie mich verhaften werden, nicht wahr, Freddie? Du glaubst, sie basteln an ihrem Fall herum, bis sie mich anklagen können! Du glaubst tatsächlich, dass man mich wegen Mordes an meinem eigenen Vater vor Gericht stellen wird!«
»Wenn sich alles so zugetragen hat, wie du es erzählt hast, Kate, dann wird dich ganz bestimmt niemand vor Gericht stellen. Der Beweis des Augenscheins reicht dazu nicht aus. Sie haben bisher keine Tatwaffe gefunden. Trotzdem, sehen wir den Tatsachen ins Auge. Du hattest ein Motiv, du warst dort, wahrscheinlich unmittelbar bevor dein Vater angegriffen wurde, du gehörst mit Sicherheit zu den letzten Menschen, die ihn lebend gesehen haben … außerdem bist du ein zweites Mal zum Haus zurückgekehrt, nachdem er dich in einem Hotel einquartiert und dich gebeten hatte, über Nacht dort zu bleiben … nun ja, es sieht wirklich schlecht aus, Kate.«
»Ich dachte, du wärst ein Freund!«, ächzte sie.
»Das bin ich auch, Kate! Aber weil ich nicht nur dein Freund, sondern auch dein Anwalt bin, versuche ich vorauszuschauen, mich darauf vorzubereiten, wenn sie kommen. Das musst du doch sehen!« Sein Ton war fast ein Flehen.
»Was ich sehe«, erwiderte sie mit leiser, bebender Stimme,
»ist, dass du glaubst, ich hätte es getan, genau wie die Polizei. Du glaubst, ich hätte meinen Vater ermordet.«
KAPITEL 10
DAS TOR gab ein leises protestierendes Knarren von sich, als Meredith es aufdrückte. Vor ihr lag Tudor Lodge. Die großen Steinblöcke leuchteten in der tief stehenden Nachmittagssonne in satten Honigfarben. Das helle Licht betonte ihre genarbte, verwitterte Struktur und ließ deutlich erkennen, wo in viktorianischer Zeit Erweiterungen vorgenommen worden waren. Der Hintergrund aus alten Bäumen und Büschen bildete einen starken, schattigen Kontrast zum Gebäude. Wie leicht es wäre, dachte Meredith, sich in dem Gewirr dort zu verstecken und die Rückseite des Hauses zu beobachten. Die Vorderseite stellte einen heimlichen Beobachter vor weit größere Probleme – er würde auf der Rasenfläche oder draußen auf der Straße lauern müssen, für alle Welt sichtbar. Meredith versuchte sich das Haus vorzustellen, wie sie es am Donnerstagabend gesehen hatte, als ihre Beifahrerin vor Tudor Lodge ausgestiegen war. Vorne hatten keine Lichter gebrannt, doch die Bäume im Hintergrund waren von unten erhellt gewesen, was die Vermutung nahe gelegt hatte, dass auf der Rückseite jemand war, wahrscheinlich in der Küche. Meredith sah zu den Reihencottages ein Stück weiter die Straße hinunter. Das am nächsten stehende besaß ein Fenster mit Ausblick auf Tudor Lodge. Es war offensichtlich das Haus, das der alten Lady gehörte, Mrs Joss, die, wie Markby erzählt hatte, in Sergeant Prescott die feste Überzeugung hervorgerufen hatte, mit der ortsansässigen Hexe gesprochen zu haben. Falls Mrs Joss in der Nacht aufgestanden war und aus dem Schlafzimmerfenster geblickt hatte, wäre sie dann imstande gewesen, über die Mauer hinweg in den Garten von Tudor Lodge zu sehen? Nein, dachte Meredith. Die Bäume wären im Weg gewesen. Sie seufzte leise. Eine unbeteiligte Zeugin wäre genau das, was die Polizei brauchte. Zugleich war Meredith selbst Zeugin in diesem Fall, denn sie hatte die mysteriöse Besucherin vor Tudor Lodge abgesetzt. Mehr als je zuvor bedauerte sie nun, nicht wenigstens so lange gewartet zu haben, bis sie sehen konnte, ob die junge Frau zum Vorder- oder zum Hintereingang marschierte. Doch ihre letzte Erinnerung war, wie die geschmeidige Gestalt selbstbewusst die Auffahrt hinauf stapfte. Weit weniger selbstbewusst ging Meredith nun selbst über den Weg zum Haus. Kaum war sie vor der Vordertür angekommen, tauchte jemand an der Ecke des Hauses auf und rief:
»Guten Tag! Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Sie wandte sich um in dem Glauben, dass es sich um einen Beamten der Bamforder Polizei handelte, doch zu ihrer Überraschung stand sie vor einem misstrauisch dreinblickenden jungen Mann in Jeans und Pullover.
»Sie sind Luke, nicht wahr?«, fragte Meredith, als ihr dämmerte, um wen es sich handeln musste.
»Ich bin Meredith Mitchell. Erinnern Sie sich an mich? Wir haben uns schon einmal gesehen.« Die Falten verschwanden von der Stirn des jungen Mannes, und er kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Sein Händedruck war fest, die Haut ledrig.
»Ja, natürlich erinnere ich mich. Bitte entschuldigen Sie, wenn mein Tonfall scharf klang. Ich dachte im ersten Augenblick, Sie wären von der Presse. Rings um das Haus lauert die Presse auf uns.« Die letzte Bemerkung war von einer vielsagenden Grimasse begleitet.
»Wie geht es Carla?«, fragte Meredith.
»Ich war mir nicht sicher, ob ich sie besuchen soll oder nicht. Ich kann wieder gehen, wenn Sie meinen, dass es besser ist.« Luke zuckte die breiten Schultern.
»Sie hält sich ziemlich gut unter den gegebenen Umständen. Nein, gehen Sie nicht. Vielleicht können Sie Mutter ein wenig aufmuntern. Das Dumme ist nämlich, sie will nicht noch mehr Kummer auf mich abwälzen, wie sie es nennt, und so bemüht sie sich, mich zu trösten, während ich versuche, sie zu trösten.« In seiner Stimme schwang ein Unterton von Verzweiflung mit. Meredith wählte ihre Worte mit Bedacht.
»In der Stadt kursieren ein paar wilde Gerüchte. Ich weiß nicht, ob Ihnen schon etwas davon zu Ohren gekommen ist. Ich schätze, es ist unausweichlich, und die Gerüchte sind alles andere als angenehm, deswegen glaube ich, ich sollte Sie warnen.«
»Sie meinen die Geschichte von der heimlichen zweiten Familie meines Vaters? Das sind keine Gerüchte, das ist eine Tatsache!« Lukes Stimme brach. Er atmete tief durch.
»Es war ein gewaltiger Schock, das können Sie mir glauben. Wie es aussieht, bin ich meiner vermutlichen Halbschwester sogar schon begegnet, auf irgendeiner Party, und um ehrlich zu sein, ich erinnere mich nicht allzu genau an sie. Ich glaube, sie war ein sehr attraktives Mädchen, das sich immer wieder in die Bilder gedrängt hat, die zu dieser Zeit gemacht wurden. Aber Sie wissen ja, wie das ist …« Er errötete verlegen.
»Ich hatte bereits ein paar Drinks zu mir genommen.« Meredith lächelte mitfühlend, bevor sie wieder ernst wurde.
»Wie hat Ihre Mutter diese Neuigkeit aufgenommen?«, fragte sie.
»Sie war ganz still, als man es ihr sagte. Offen gestanden, ich weiß nicht, wie sie es verdaut hat, weil sie nicht mit mir darüber spricht und sich weigert, auch nur ein Wort der Kritik an Dad anzunehmen.« Bitter fügte Luke hinzu:
»Im Augenblick ist alles ein wenig schwierig, wissen Sie?« Er hob den Kopf und blickte Meredith in die Augen.
»Wie konnte er nur so etwas tun? Dad, meine ich. Wie konnte er sie so täuschen – wie konnte er uns beide nur all die Jahre so täuschen? Warum hat er es getan? Er und Mum waren so glücklich, und sie passten so gut zueinander … jedenfalls hatte ich immer das Gefühl. Es war nicht so, als hätten sie je gestritten, und sie haben einander sehr geliebt.«
»Viele Menschen machen aus ihrem Leben ein Chaos«, sagte Meredith.
»Sie wollen es nicht, es geschieht einfach.« Er findet es gerade selbst heraus, dachte sie. Es ist eine grausame Erfahrung. Doch Luke war nicht der Einzige, der diese Erfahrung machte. Halb vergessene, schmerzliche Erinnerungen stiegen in Meredith auf.
»Dann gehe ich jetzt rein und besuche Ihre Mutter, einverstanden?«
Carla sah müde und mitgenommen aus, doch wenigstens weinte sie nicht mehr, wie Meredith befürchtet hatte. Normalerweise schätzte sie Carla als ziemlich starke Persönlichkeit ein, doch Mord hatte die Eigenart, jeden der Betroffenen bis ins Mark zu erschüttern.
»Tee oder lieber Gin Tonic?«, fragte Carla, sobald Meredith Platz genommen hatte.
»Keine Sorge, ich hänge nicht an der Flasche«, fügte sie ein wenig rechtfertigend hinzu.
»Luke beobachtet mich sehr genau, was das angeht.«
»Fein, ich nehme einen Gin Tonic. Ich habe schon mit meinen Nachbarn Tee getrunken.« Carla ging zum Barschrank und beschäftigte sich mit den Drinks. Mit dem Rücken zu Meredith fragte sie:
»Eis und Limone? Ich muss beides aus der Küche holen. Ich bin gleich wieder zurück.« Meredith öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass sie sich nicht die Mühe machen sollte, doch ihre Gastgeberin war bereits verschwunden. Minuten später brachte sie die beiden Drinks, stellte sie auf den Wohnzimmertisch und setzte sich in den Sessel neben Meredith. Sie nahm ihr Glas und toastete Meredith zu.
»Auf die Erinnerungen an bessere Tage.« Sie klang bitter, und Meredith wusste nicht, was sie auf diesen dunklen Trinkspruch erwidern sollte.
»Man wird den Täter finden, Carla, ganz bestimmt.« Es war ein halbherziger Versuch des Trostes, und Meredith war sich nie im Leben bewusster gewesen, wie endgültig der Tod doch war. Was würde es ändern, wenn man den Täter fand? Andrew war für immer von ihnen gegangen.
»Ich habe Luke draußen getroffen«, wechselte sie das Thema.
»Der arme Junge. Seine Welt liegt in Scherben. Er hat seinen Vater angebetet.« Ohne Vorwarnung fügte sie hinzu:
»Ich wusste natürlich Bescheid. Luke meint, ich hätte nichts gewusst, aber ich wusste Bescheid.« Das brachte Meredith aus der Fassung.
»Oh, tatsächlich?«, murmelte sie bestürzt, bevor sie sich zusammenriss und fast ungläubig hinzufügte:
»Ich glaube, ich weiß, wovon du redest, aber ich muss trotzdem fragen – meinen wir beide das Gleiche?«
»Wir meinen dieses Kind, diese Tochter von Andrew, die aus dem Nichts aufgetaucht ist, richtig?«
»Er hat es dir erzählt?« Carla lachte. Es war ein eigenartig raues Geräusch.
»Andrew? Gütiger Gott, nein! Das hätte er niemals getan! Er wollte mich davor schützen. Jedenfalls würde er es für sich so gesehen haben. Er wollte nicht, dass ich mich aufrege oder es zu einem Skandal kommt. Andrew hasste Aufsehen, und die Person, die er in Wirklichkeit schützte, war er selbst. Nein, ich wusste es, weil eine Ehefrau letztendlich alles weiß, oder nicht?«
»Ich war nie verheiratet«, gestand Meredith trocken.
»Das ist deine eigene Schuld. Dieser attraktive Cop, mit dem du zusammen bist, lechzt förmlich danach, dich vor den Altar zu schleppen. Du solltest ihn festnageln, solange du es noch kannst. Er wird nicht bis in alle Ewigkeit warten, weißt du? Männer warten nicht. Sie haben einfach nicht die Geduld, so lange auszuhalten.« Meredith wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, daher schwieg sie. Wenigstens war Carla vorübergehend von ihren eigenen Sorgen abgelenkt. Jetzt beugte sie sich vor und hielt das Ginglas mit beiden Händen.
»Es war nicht, dass er ein neues Aftershave benutzt hätte oder Geld von einem gemeinsamen Konto verschwunden wäre, die üblichen verräterischen Anzeichen. Wir hatten immer schon getrennte Konten sowie ein gemeinsames Haushaltskonto. Solange das Geld darin auf dem üblichen Stand blieb, hatte ich keine Möglichkeit herauszufinden, was Andrew mit dem Geld auf seinem persönlichen Konto tat … genauso wenig, wie er wusste, was ich mit meinem Geld gemacht habe.« Carla blickte auf, und in ihren Augen war ein Glitzern.
»Aber ich hatte keinen Liebhaber, keine langfristige Beziehung neben meiner Ehe, nicht einmal einen kurzen Seitensprung, das ist der Unterschied! Nein, ich denke, verraten hat er sich durch die Geschenke, die er mir gemacht hat. Wenn er vom Kontinent zurückkam, brachte er nicht nur ein paar anständige Flaschen Wein oder ein Parfum mit. Nein, er hat die lächerlichsten Dinge gekauft, die ich unmöglich benutzen konnte und die jedes Mal unglaublich kostspielig waren. Ich wusste schon sehr früh, dass er damit sein schlechtes Gewissen zu beruhigen versuchte, dass sie das Ergebnis von Schuldgefühlen waren. Andrew hatte ein empfindsames Gewissen, und wann immer es ihm Kummer machte, beruhigte er es, indem er Geschenke kaufte. Also nahm ich an, dass er in Brüssel eine Geliebte hatte. Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht gewesen wäre. Schließlich verbrachten wir eine Menge Zeit getrennt. Ich machte mir keine allzu großen Sorgen deswegen; auf dem Kontinent werden diese Dinge viel diskreter gehandhabt als hier in England. Ich vertraute darauf, dass er diskret sein würde. Doch eines Tages erzählte mir ein Kollege, der gerade von einem Strandurlaub in Newquay zurückgekehrt war, dass er hätte schwören können, Andrew in einem Country-Club unmittelbar außerhalb der Stadt gesehen zu haben. Andrew war zu diesem Zeitpunkt offiziell im Ausland, und ich sagte ihm das. Der Kollege riss einen Witz, um sich aus der Verlegenheit zu lösen, und meinte, Andrew müsse wohl einen Doppelgänger haben.« Carla nahm einen Schluck von ihrem Gin.
»Das war das erste Mal. Ich vergaß es bald wieder. Wir alle haben irgendwo einen Doppelgänger, oder nicht? Dann, sechs Monate später, geschah es erneut. Ein anderer Kollege, ein anderer Ort in Cornwall – diesmal Tintagel. Er hatte jemanden gesehen, der Andrew zum Verwechseln ähnelte. Der Doppelgänger war in Begleitung einer Frau und eines kleinen Mädchens über die Klippen spaziert.« Carla lächelte wehmütig.
»Ich habe als Fernsehjournalistin gearbeitet, und ich war von Leuten umgeben, die sich mit Nachrichten auskennen. Sie haben einen sechsten Sinn für diese Dinge, und das muss auf mich abgefärbt haben. Ich wusste instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmte. Danach war ich wachsam. Ich rief ihn ein paar Mal in Brüssel an, und er war nicht da, weder in seiner Wohnung noch im Büro. Seine Sekretärin lieferte irgendeinen fadenscheinigen Vorwand. Da wusste ich, dass er überhaupt nicht in Belgien war! Er hatte sich nach Cornwall verdrückt! Ich fuhr nach Cornwall und schnüffelte herum. Ich wusste, wo er geboren war, und dort fing ich an. Ich musste nicht lange suchen. Jeder kannte ihn, ein Einheimischer, der es zu etwas gebracht hatte. Jeder wusste, dass er eine Art Partner oder Teilhaber an einem Souvenirladen war, den eine alte Schulfreundin führte. Die alte Schulfreundin war, wie sich herausstellte, in meinem Alter und gut aussehend, aber auf eine künstlerische Art, und sie besaß eine zehnjährige Tochter. Das Kind war offiziell ohne Vater, doch die Leute lächelten wissend und schüttelten nachsichtig die Köpfe.« Carla zuckte die Schultern.
»Der arme Andrew. Er war so naiv. Ich glaube, sie alle wussten Bescheid in seinem Heimatdorf, zumindest die älteren Bewohner, die ihn aus der Zeit seiner Kindheit kannten. Aber sie waren diskret, verstehen Sie?«
»Du hast ihn nie damit konfrontiert?«, fragte Meredith neugierig.
»Hast du denn nie wenigstens daran gedacht?« Carla antwortete nicht sogleich. Sie setzte ihr leeres Glas mit einem Klirren auf dem Tisch ab und zupfte geistesabwesend an ein paar Strähnen ihres kurz geschorenen Haars.
»Ich muss wieder zum Friseur!«, murmelte sie.
»Und ich brauche eine Spülung. Ich dachte, ich lasse mir die Haare vielleicht einen oder zwei Töne heller machen? Was meinst du?« Sie erwartete sicher keine Antwort auf diese beiläufige Frage, und Meredith gab auch keine. Nach ein paar Sekunden hörte Carla mit dem Zupfen auf und kehrte zum Thema zurück.
»Ja«, sagte sie fest.
»Ich dachte daran, ihn mit dieser Geschichte zu konfrontieren. Aber dann überlegte ich: Was geschieht mit Luke? Luke war kaum älter als dieses Mädchen in Cornwall. Es war ein verdammt ungünstiges Alter für ein Kind, ihm zu eröffnen, dass der Vater noch eine Familie und man selbst eine Halbschwester im gleichen Alter hat. Warum sollte ich unser Boot derart unnötig zum Schaukeln bringen? Meine Karriere verlief gut, seine ebenfalls. Wenn er nach Hause kam, hatten wir immer eine gute Zeit. Er würde mich nicht verlassen. Hätte er das je vorgehabt, wäre es längst geschehen. Er stand im Licht der Öffentlichkeit und konnte sich keinen Skandal erlauben. Warum nicht einfach die Dinge so lassen, wie sie waren? Wer litt überhaupt darunter?«
»Du hast gelitten«, sagte Meredith steif. Kühle, distanzierte Überlegung half einem nicht über Emotionen hinweg. Carla erwartete doch wohl nicht, dass Meredith ihr diese Erklärung unwidersprochen abkaufte? Es musste noch einen weiteren Grund geben, warum sie Andrews Doppelleben geduldet hatte. Carla blickte auf, und das Glitzern war in ihre Augen zurückgekehrt.
»Ich kann dir wohl nichts vormachen, wie? Trotzdem, was ich gesagt habe, ist wahr. Alles. Und es gab noch einen weiteren Grund. Du darfst nicht vergessen, auch ich stehe in der Öffentlichkeit. Ich konnte es einfach nicht ertragen, eine Närrin aus mir machen zu lassen. Kannst du dir die Schlagzeilen vorstellen? Die Klatschblätter? BERÜHMTE WISSENSCHAFTSMODERATORIN ENTDECKT LIEBESNEST IHRES MANNES! Also verschloss ich die Augen davor und ließ es weiter geschehen. Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass, was auch immer er dort unten in Cornwall hatte, nicht mehr als eine Art Hobby war, ein nostalgischer Trip in die Erinnerungen der Kindheit. Was er wirklich wollte, was ihm wirklich etwas bedeutete, das war hier in Bamford, das waren Luke und ich. Was hätte ich ihm also sagen können? Dass er eine Entscheidung treffen sollte? Das hatte er längst. Er hatte sich für uns entschieden. Ich empfand sogar so etwas wie Mitleid für die Frau in Cornwall, weil sie die zweite Geige spielen und die ganze Zeit heucheln musste. Ich sah, dass Andrew mich und Luke wirklich liebte. Und wir waren glücklich, Meredith, das ist die Wahrheit. Warum sollte ich das zerstören? Warum sollte ich ihn zwingen, diese andere Frau zu verlassen? Warum hätte ich mich von ihm trennen sollen, wenn dadurch das glückliche Familienleben zerstört worden wäre, das wir hier in Bamford hatten?« Carla lächelte.
»Andrew hatte etwas an sich, weißt du, etwas sehr Kindliches. Er wollte immer alle Süßigkeiten im Laden.« Sie wurden vom Geräusch einer lauten Auseinandersetzung draußen vor dem Haus unterbrochen. Luke hatte die Stimme ärgerlich erhoben, und eine zweite männliche Stimme protestierte lautstark schnaufend. Dann kehrte wieder Stille ein, nur durchbrochen vom Quietschen des eisernen Tores an der Auffahrt.
»Die Presse!«, stellte Carla fest.
»Luke ist ein äußerst zuverlässiger Wachhund.«
»Und was geschieht nun?«, fragte Meredith.
»Ich sitze hier und mache das, was die Polizei sagt. Ich habe allerdings eine Entscheidung getroffen. Wegen dieses Mädchens, wegen Andrews Tochter.« Meredith hob misstrauisch den Blick. Carla wirkte wie jemand, der eine Überraschung vorbereitet hat und im Begriff steht, sie voll Vergnügen zu präsentieren.
»Ich werde Kate Drago wohl fragen, ob sie nicht herkommen und in Tudor Lodge wohnen möchte, zusammen mit Luke und mir.« Meredith hätte mehrere Dinge sagen können, ausnahmslos kluge, taktvolle Worte. Doch was schließlich aus ihr hervorsprudelte, war:
»Das kann doch unmöglich dein Ernst sein!«
»Die meisten Leute würden wahrscheinlich so denken.« Carla nickte.
»Aber alles Gerede hin oder her, sie ist Andrews Tochter. Andrew hat sich um sie gekümmert, mehr oder weniger, während sie aufgewachsen ist, und würde er noch …«, ihre Stimme brach ein klein wenig, und sie räusperte sich.
»Wäre er noch bei uns, dann würde er sich weiter um sie kümmern wollen. Also muss ich das nun für ihn tun. Außerdem wohnt sie zurzeit im Crown, und das kann unmöglich befriedigend sein. Das Kind hat seine Mutter verloren, wenn ich richtig informiert bin, und jetzt auch noch den Vater, genau wie Luke. Sie ist Lukes Halbschwester!« Carlas gelassene Fassade brach.
»Meredith, mein Ehemann wurde ermordet! Er hatte keinen Unfall, er ist nicht an einer Krankheit gestorben, er wurde ermordet! Irgendjemand kam her und hat ihn umgebracht. Unsere Welt liegt in Scherben, Lukes, meine und die von Kate ebenfalls! Wir müssen jetzt versuchen, uns gegenseitig zu helfen, so gut wir können, und wir müssen zusammenhalten! Ich weiß, das alles ist ein furchtbares Chaos, aber begreifst du denn nicht, wie ich versuchen möchte, alles wieder in Ordnung zu bringen? Ich möchte das Richtige tun und diese Familie wieder aufrichten.« Du versuchst etwas zu tun, dachte Meredith, was Andrew nie geschafft hätte. Du möchtest Ordnung in diese ungeordneten Verhältnisse bringen. Doch es würde nicht leicht werden. War Carla denn noch nicht der Gedanke gekommen, dass Kate Drago die letzte Person war – jedenfalls soweit man wusste –, die Andrew lebend gesehen hatte, bevor der Mörder gekommen war? Immer vorausgesetzt natürlich, dass noch jemand anderes in seinen Tod verwickelt war. Das Mädchen nach Tudor Lodge einzuladen konnte sich letzten Endes nicht nur als eine höchst peinliche Angelegenheit herausstellen, es konnte gefährlich werden. Diese ganze Sache hatte das Zeug zu einem tragischen Irrtum. Auf möglichst taktvolle Weise versuchte sie, Carla ihre Gedanken dazu zu erläutern.
»Du kennst die junge Frau doch gar nicht, Carla. Du weißt nur, wer ihr Vater ist. Ich habe sie kennen gelernt. Zugegeben, ich habe nur kurz mit ihr gesprochen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie sehr tüchtig und sehr willensstark ist. Außerdem, was sagt Luke dazu?«
»Er denkt wie ich, dass wir tun sollen, was Andrew sich gewünscht hätte«, lautete Carla Penhallows entschiedene Antwort. Das war nicht gerade der Eindruck, den Meredith bei ihrer kurzen Begegnung mit Luke draußen vor dem Haus gewonnen hatte. Sie hatte eher einen bitteren Groll gegen den toten Vater bei dem jungen Mann gespürt.
»Denk lieber nochmal darüber nach«, flehte sie.
»Sprich mit Alan. Vielleicht sagt die Polizei, dass es ein unkluger Entschluss ist. Es könnte ihre Ermittlungen komplizierter machen.«
»Ganz im Gegenteil. Ich bin sicher, es wird die Dinge einfacher machen.« Carla sprach im störrischen Tonfall von jemandem, der seinen Entschluss gefasst hat und nicht bereit ist, sich vernünftigen Argumenten zu öffnen.
»Ach, Meredith, ich habe fast das Gefühl, als wäre Andrew noch hier bei uns im Haus. Ich denke, er wird meine Entscheidung gutheißen. Heute Morgen, als ich die Treppe hinunterkam, dachte ich, ich könnte ihn sehen. Ich habe seine Gegenwart gespürt. Er hat mich beobachtet.«
»Wahrscheinlich wacht er auch noch über euch«, murmelte Meredith leise. Doch Carlas Gehör funktionierte makellos.
»Ich weiß, was du denkst, Meredith. Aber ich glaube nicht, dass sie Andrew angegriffen hat. Wenn ich das denken würde, könnte ich sie bestimmt nicht nach Tudor Lodge einladen. Warum hätte sie so etwas tun sollen? Wenn das alles dich nicht überzeugt – und ich sehe, dass du immer noch zweifelst –, dann denk an die Nachrichtenjäger, die meine Haustür belagern. Wenn ich richtig liege, dann belagern sie auch das Crown. Mrs Flack hat mir berichtet, dass sie Kate sogar Geld für ihre Geschichte angeboten haben, aber Kate hat die Reporter abgewiesen. Das könnte natürlich eins von diesen Gerüchten sein. Irene Flack hat es von Lee Joss, der als Barmann im Crown arbeitet. Seine Großmutter wohnt in einem der Reihencottages zwischen hier und Sawyers Tankstelle. Es ist doch nur logisch, dass wir Kate hierher zu uns nehmen, wo wir sie – und damit letzten Endes auch uns selbst – vor der Boulevardpresse schützen können. Es ist einfach nicht fair, eine junge Frau ganz allein mit dieser Meute von Reportern zu lassen.«
»Ja, ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die Gerüchteküche brodelt!«, räumte Meredith grimmig ein.
»Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge, Carla. Wir wissen immer noch nicht, wer hinter dem heimtückischen Angriff steckt, und solange wir das nicht wissen …«
»Einbrecher!« Carla ließ Meredith nicht ausreden.
»Ich weiß nicht, warum die Leute nicht das Offensichtliche akzeptieren! Ständig hängen irgendwelche Taugenichtse herum und halten nach Häusern Ausschau, in die sie einbrechen können. Und Tudor Lodge ist ein natürliches Ziel für dieses Gesindel. Sie haben gedacht, Andrew sei zu Bett gegangen – und er war noch auf. Man hat eine Wärmflasche neben seiner Leiche gefunden. Wahrscheinlich hat er in Lukes Zimmer gefroren. Das Bett war seit Wochen nicht mehr benutzt worden. Also ging er noch einmal nach unten, füllte sich die Wärmflasche und störte die Einbrecher bei ihrem Tun. Sie rannten nach draußen, und er rannte ihnen hinterher …« Carlas Stimme bebte, doch ihr Tonfall war eisern.
»Ich weiß, dass sich ein paar kleine Diebe in der Gegend herumtreiben«, räumte Meredith ein.
»Einer hat nämlich versucht, durch meine Küchentür einzubrechen, und er hat meiner Nachbarin die Geldbörse gestohlen …«
»Da siehst du’s!« Carla wäre fast aus dem Sessel gesprungen.
»Hast du es Alan schon erzählt?«
»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen …«, gestand Meredith. Carla starrte sie bestürzt an.
»Aber warum um alles in der Welt nicht? Das könnte schließlich alles erklären! Die gleiche Person oder die gleichen Leute könnten versucht haben, bei uns einzubrechen …«
»Carla!«, protestierte Meredith.
»Es war nur ein Kind! Ich hab ihn mit meinen eigenen Augen gesehen, ein Irrtum ist ausgeschlossen. Er war höchstens dreizehn Jahre alt, wahrscheinlich eher zwölf. Er geht im hellen Tageslicht auf Diebestour, und er nutzt Gelegenheiten. Er rennt weg, wenn er gestört wird. Er kann unmöglich etwas mit dem zu tun haben, was hier passiert ist.«
»Aber du musst es Alan erzählen!«, beharrte Carla.
»Wenn schon nichts anderes, so beweist es, was ich sage. Es muss nicht der gleiche Dieb sein, aber es zeigt, dass in Bamford Diebe am Werk sind!«
»Gut, ich sage es Alan. Ich habe es noch nicht getan, weil es eine Bagatelle ist, eine Angelegenheit für die örtliche Polizei. Aber Carla, bevor nicht zweifelsfrei feststeht, was sich Donnerstagnacht hier ereignet hat …«
»Donnerstagnacht«, unterbrach Carla sie,
»wurde Andrew von einem Einbrecher angegriffen. Er wurde getötet bei dem Versuch, sein Haus und mich zu verteidigen! Ich glaube, dass wir eher stolz auf ihn sein sollten, weil er so tapfer war und sein Leben auf so … so edelmütige Weise geopfert hat, anstatt die Dinge zu kritisieren, die er sonst noch getan haben mag – findest du nicht auch?« Nachdem Meredith wieder draußen war, blickte sie sich suchend nach Luke um, doch er war nirgendwo zu sehen. Sie zögerte. Es ging sie nichts an, und sie hatte kein Recht, sich einzumischen, und doch – sie war diejenige gewesen, die Kate Drago nach Tudor Lodge gebracht hatte, und sie konnte jetzt nicht einfach davongehen, in dem sicheren Gefühl, dass Carla im Begriff stand, einen großen Fehler zu begehen. In der Tat bereits gemacht hatte, weil die Unterhaltung damit geendet hatte, dass sie Meredith eröffnet hatte, bereits im Crown angerufen und eine Nachricht für Kate hinterlassen zu haben, also hätte es überhaupt keinen Sinn, wenn Meredith dagegen argumentierte. Doch noch war Kate nicht im Haus, und noch gab es Luke, der einen beträchtlichen Einfluss auf seine Mutter hatte. Meredith wollte nicht glauben, dass er genauso begierig darauf war wie seine Mutter, Andrews uneheliche Tochter im Schoß der Familie zu sehen. Vielleicht war es noch nicht zu spät, zu verhindern, was sich als katastrophale Fehlentscheidung herausstellen konnte. Vielleicht, dachte Meredith, ist Luke im Garten hinter dem Haus. Sie setzte sich in Bewegung und wanderte an der Trockensteinmauer entlang. Die alten Mauern – und diese hier war, ihrem Aussehen nach zu urteilen, ganz besonders alt – faszinierten Meredith. Sie betastete die verwitterten Blöcke und fragte sich, wie lange sie schon hier standen, aufgeschichtet mit Geschick, ohne Zuhilfenahme von Mörtel und allein von ihrem Gewicht, guter Balance und angesammeltem Flugstaub gehalten, in dem wie durch ein Wunder kleine Pflanzen Fuß gefasst hatten. Sie hatte den Garten fast völlig umrundet, ohne eine Spur von Luke zu sehen, als sie einen Platz erreichte, wo ein Stück der Mauer beschädigt war. Der Schaden ging auf eine mächtige Rosskastanie zurück, die auf der anderen Seite wuchs. Einer der dicken Äste ruhte direkt auf der Mauer. Im Verlauf der Zeit hatte er die oberen Steine weggedrückt, und sie lagen in einem grasüberwucherten, unordentlichen Haufen am Fuß der Mauer. Der Ast reichte bis fast auf den Boden herab und bildete eine Art natürliche Gartenbank. Meredith setzte sich darauf. Es war eine Schande, dass der Garten so vernachlässigt war, denn er hatte eine Menge zu bieten. Meredith fragte sich, ob Luke als kleiner Junge Kastanien gesammelt hatte, wie alle Kinder es im Spätsommer machten. Sie hatte es als Kind ebenfalls getan und mit großem Vergnügen die runden, stacheligen Kugeln geöffnet, in denen die wunderschönen, mahagonibraunen Früchte ruhten. Dann mit den Kastanien in die Küche, ein Loch hineingebohrt mit einem Fleischspieß, ein Stück Schnur hindurchgezogen und schließlich – die Kastanienkämpfe! Sie strich in Erinnerungen schwelgend mit der Hand über die dunkle Rinde und runzelte die Stirn. Die Rinde war übersät von langen, relativ frischen Kratzern. Meredith konnte den Baumsaft riechen. Sie sah nach oben, am Stamm entlang. Ein Vogel raschelte in den Zweigen, das einzige Lebewesen weit und breit. Einem Impuls gehorchend stand sie auf und kletterte auf den Ast, während sie mit ausgestreckten Händen ihr Gleichgewicht hielt. Man konnte auf diese Weise ohne Schwierigkeiten den Ast hinauf bis zur Mauerkrone gelangen. Dort angekommen, konnte man mit ein wenig Geschick und dem Risiko, sich ein paar Schrammen zuzuziehen, über den Stamm hinweg zu einem weiteren Ast gelangen, der sich auf der gegenüberliegenden Seite der Trockenmauer dem Boden entgegen neigte. Obwohl Meredith längst nicht mehr an derartige Bewegungen gewöhnt war, glitt und rutschte sie über den Ast und landete schließlich auf der anderen Seite. Sie stieß einen leisen Pfiff aus. Man musste ein wenig gelenkig sein, doch der Baum bildete nichtsdestotrotz eine sehr gut nutzbare
»Trittleiter« über die Mauer, einen leicht nutzbaren Weg in den Garten der Penhallows und wieder hinaus. Die Kratzer in der Rinde waren auch auf dem Ast zu sehen, der sich auf der anderen Seite der Mauer befand. Irgendjemand war erst vor kurzer Zeit auf diesem Weg in den Garten gelangt und hatte ihn auch wieder verlassen. Vielleicht waren es Kinder, sinnierte Meredith, oder Beamte der Polizei, die das Grundstück abgesucht hatten. Trotzdem war es vielleicht eine nähere Untersuchung wert. Meredith blickte sich um. Sie stand auf einem ausgetretenen Pfad, der an der Seite des Penhallow’schen Grundstücks entlangführte, bevor er nach links abbog und sich, wie es aussah, hinter den Reihencottages herzog. Meredith setzte sich in Bewegung und folgte ihm. Wie sie vermutet hatte, führte er hinter den Cottages entlang und endete dann auf einer freien, grasbewachsenen Fläche. Dahinter lag die Tankstelle mit ihren Zapfsäulen, den großen Fenstern und schrillen Farben. Auf der freien Fläche stand ein alter Wagen. Die Motorhaube war offen, und zwei Gestalten standen über die Maschine gebeugt, ein Mann und eine Frau, beide in ihr Tun vertieft. Während Meredith sie beobachtete, richtete sich der Mann auf und wischte sich mit dem Rücken einer ölverschmierten Hand über die Stirn.
»Ich will sehen, was ich tun kann, Irene. Aber du solltest wirklich überlegen, ob du dieses alte Wrack nicht bald abstößt.« Die Frau richtete sich ebenfalls aus ihrer gebückten Haltung auf, und Meredith sah, dass es Mrs Flack war, die Haushälterin von Tudor Lodge.
»Ich behaupte ja nicht, dass du Unrecht hast, Harry, aber ich kann mir einfach keinen neuen Wagen leisten, und das war’s zu diesem Thema.«
»Ich halte die Augen für dich offen«, versprach der Mann namens Harry. Meredith sah nun auch, dass er einen Overall trug, und sie erkannte in ihm den Tankstellenbesitzer. Harry Sawyer war Ende vierzig, hatte ein langes, schmales Gesicht, eine gerade Nase und eng zusammenstehende Augen, was ihm alles zusammengenommen das Aussehen eines gutmütigen Pferdes verlieh. In diesem Augenblick bemerkte Sawyer, dass er nicht mehr mit Irene Flack allein war.
»Hallo, woher sind Sie denn gekommen?« Mrs Flack drehte sich um und sah Meredith überrascht an.
»Miss Mitchell, hallo!« Ein wenig verlegen ging Meredith zu den beiden.
»Ich war Mrs Penhallow besuchen. Ich dachte mir, ich mache einen kleinen Spaziergang. Dabei habe ich diesen Weg dort entdeckt …« Sie deutete hinter sich, wo der Pfad hinter den Reihenhäusern verschwand.
»Oh, der führt nirgendwohin«, sagte Mrs Flack.
»Reine Zeitverschwendung, da lang zu gehen, wirklich. Früher war es ein Hintereingang zu unseren Gärten, aber heute benutzt ihn niemand mehr.«
»Oh, Sie wohnen hier?«, fragte Meredith mit einem Blick zu den Cottages. Mrs Flack deutete auf das am nächsten stehende Haus, das am weitesten von Tudor Lodge entfernt war.
»Und ich parke meinen kleinen Wagen immer hier«, fügte sie hinzu.
»Es ist praktisch, und Harry hat nichts dagegen.« Harry Sawyer starrte sie überrascht an.
»Wieso auch? Das ist doch nicht meine Sache. Das Grundstück gehört mir nicht.« Nun war Mrs Flack an der Reihe zu staunen.
»Gehört dir nicht, Harry? Ich dachte immer, es wäre Teil deines Besitzes, zusammen mit der Tankstelle? Als Reserve, sozusagen, wenn du dich mal vergrößern möchtest?«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte er knapp. Mrs Flack runzelte die Stirn.
»Nun ja, ich habe dich nie danach gefragt, ich weiß, aber ich dachte immer, wenn du etwas dagegen gehabt hättest, würdest du es mir längst gesagt haben. Wem gehört dieses Grundstück denn, wenn nicht dir?« Harry hob eine ölverschmierte Hand und deutete in Richtung Tudor Lodge.
»Gehört denen dort, wusstest du das nicht? Den Penhallows. Ich versuche seit Jahren, sie dazu zu bewegen, es mir zu verkaufen, aber sie wollen nicht. Ich verstehe nicht warum. Sie benutzen es nicht, und ich habe ihnen ein faires Angebot gemacht.«
»Das ist wirklich eigenartig!« Irene Flack dachte über das Gesagte nach.
»Ich hatte ja keine Ahnung«, fügte sie hinzu. Harry Sawyer sah Meredith an.
»Sie waren Mrs Penhallow besuchen, sagen Sie? Wie geht es ihr denn?«
»Den Umständen entsprechend, würde ich sagen«, antwortete Meredith vorsichtig. Sie fragte sich, ob Mrs Flack bereits über Carlas Plan informiert war, Kate Drago nach Tudor Lodge einzuladen. Doch Mrs Flack sagte nur:
»Schön, dass eine Freundin sich um sie kümmert. Es war ein grauenvoller Schock für Carla.« Sawyer löste die Stange, die die Motorhaube oben hielt, und ließ die Haube knallend fallen.
»Wie ich schon sagte, Irene, ich halte die Augen für dich nach einem Ersatz offen. Auf lange Sicht fährst du damit besser, glaub mir. Du kannst diesen hier nicht andauernd reparieren. Eines Tages wird er dich im Stich lassen, und zwar genau dann, wenn du ihn am dringendsten brauchst.« Meredith beschloss, die beiden mit ihren Geschäften allein zu lassen. Sie verabschiedete sich und marschierte davon. Diesmal nahm sie die offensichtlichere Route entlang der Straße, an den Fassaden der Reihencottages vorbei. Als sie das Haus erreicht hatte, das Tudor Lodge am nächsten stand, bemerkte sie, dass die Bewohnerin, eine alte Frau, am Fenster saß und die Welt draußen beobachtete. Sie beugte sich vor und musterte Meredith neugierig. Meredith lächelte ihr zu, doch die Alte starrte sie nur misstrauisch und einigermaßen wütend an. Das musste Mrs Joss sein, die angebliche Hexe! Andererseits hatte sich in unmittelbarer Nähe ihres Hauses ein Mord ereignet, und das mochte dazu geführt haben, dass sie nervös auf alles Ungewohnte reagierte. Mit dem Gefühl, dass diese dunklen, boshaften Augen sich in ihren Rücken bohrten, erreichte Meredith Tudor Lodge. Sie kam gerade rechtzeitig, um den Wagen zu sehen, der in die Auffahrt einbog. Der Fahrer bremste und streckte den Kopf aus dem Fenster. Es war Luke.
»Ich dachte, solange Sie bei Mum sind, fahre ich kurz in die Stadt und besorge ein paar Sachen«, sagte er. Er klang gereizt, als hätte Meredith ihn enttäuscht.
»Ich bin noch nicht lange wieder weg«, versicherte Meredith ihm.
»Luke, hören Sie – ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich würde meine Nase in Ihre Familienangelegenheiten stecken, aber diese Idee Ihrer Mutter …«
»Sie meinen, meine Halbschwester ins Haus einzuladen …?«, unterbrach er Meredith offen. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und starrte durch die Windschutzscheibe nach vorn auf das Haus.
»Sie will es unbedingt. Sie glaubt, Dad hätte es so gewollt. Ich kann sie nicht aufhalten.«
»Doch, das könnten Sie«, widersprach Meredith.
»Wenn Sie es wirklich wollen. Ihre Mutter würde Ihre Gefühle berücksichtigen, wenn Sie offen aussprechen, was Sie von der Idee halten.«
»Das ist nicht so einfach«, erwiderte er. Er blickte weiter geradeaus durch die Scheibe, und Meredith spürte, wie seine Fassade von Selbstsicherheit bröckelte.
»Der Zustand, in dem sie sich befindet … Ein Streit ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Wenn es sie glücklich macht, wenn es sie beruhigt, wenn sie glaubt, das zu tun, was Dad auch getan hätte, dann werde ich sie nicht daran hindern. Außerdem ist da noch die Presse, die wir nicht vergessen dürfen. Wir wollen nicht, dass Journalisten mit ihr reden. Es wird nicht ganz leicht werden, schätze ich, aber wir werden es schon irgendwie schaffen. Schließlich wird Kate nicht für alle Ewigkeit bei uns wohnen bleiben, oder?« Die letzten Worte klangen störrisch.
»Das können Sie nicht wissen!«, hätte Meredith fast geantwortet, doch sie biss sich auf die Zunge. Der junge Mann hielt seine eigenen Gefühle zurück. Das konnte nicht gut sein, doch jetzt war nicht der Augenblick, darüber zu diskutieren.
»Ich habe gerade einen kleinen Spaziergang gemacht, bis zur Tankstelle. Mrs Flack ist dort, zusammen mit dem Tankstellenbesitzer, Sawyer heißt er, glaube ich. Sie hat irgendetwas mit dem Wagen.«
»Der alte Harry? Ja, er hält ihren Wagen am Laufen. Es ist eine furchtbare alte Klapperkiste.«
»Er sagt, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dass Ihnen das Land zwischen den Cottages und der Tankstelle gehört und dass er es gerne kaufen möchte.« Luke verzog das Gesicht.
»Das ist richtig, und Dad hat sich immer geweigert zu verkaufen. Hat Harry Ihnen erzählt, was er mit dem Land vorhat?« Als Meredith den Kopf schüttelte, fuhr er fort:
»Harry hat ehrgeizige Pläne. Er will Autos verkaufen, nicht immer nur reparieren und betanken. Er möchte einen Ausstellungsraum bauen und Vertragshändler für eine der großen Marken werden. Aber dazu braucht er mehr Platz, und deswegen will er das freie Stück Land. Vor Jahren haben die Cottages zu Tudor Lodge gehört, aber sie wurden verkauft. Deswegen haben wir nur dieses Stück Land dahinter. Es wurde beim Verkauf der Cottages irgendwie ausgelassen. Wir haben keine Verwendung dafür, wie ich zugebe, aber ein Ausstellungsraum für Autos? Es ist schlimm genug, dass Harrys Tankstelle die ganze Nacht wie ein Leuchtfeuer flimmert, dass ständig Wagen hin und her fahren, Tanklaster … ein Ausstellungsraum würde das Fass zum Überlaufen bringen. Ich mag Harry, und es tut mir Leid für ihn, aber das steht einfach nicht zur Debatte. Dad war eisern in dieser Sache, und ich bin seiner Meinung.«
»Ich verstehe«, sagte Meredith nachdenklich.
»Ich lasse Sie jetzt wieder mit Ihrer Mutter allein, Luke. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendetwas brauchen, ja?« Sie sah ihm hinterher, als er die Auffahrt hinauffuhr, und ging zu der Stelle, wo sie ihren eigenen Wagen abgestellt hatte. Beim Wegfahren wurde ihr bewusst, wie wenig sie doch alle über Tudor Lodge und seine Bewohner gewusst hatten. Dieser Gedanke wurde sofort von einem weiteren verdrängt. Sie hatte ein Versprechen abgegeben, oder wenigstens eine Art Versprechen, dass sie Alan von dem jungen Einbrecher berichten würde. Sie bedauerte bereits, dass sie Carla zugesichert hatte, es zu tun, doch es wäre schwierig gewesen, ihr diese Bitte abzuschlagen. Und nicht imstande zu sein, ein Versprechen zu vermeiden, bedeutete nicht, dass es weniger bindend war. Doch Meredith wollte Alan nichts von dem jugendlichen Dieb erzählen. Er hatte genug um die Ohren, auch ohne diese Sorge. Außerdem gehörte Einbruch nicht zu der Kategorie von Delikten, die in Alans Zuständigkeitsbereich fielen. Es war eine Angelegenheit der Bamforder Polizei, nicht mehr und nicht weniger. Meredith überlegte ein paar Minuten, dann wendete sie den Wagen mit einem resignierten Seufzer und steuerte in Richtung des Reviers.
Sie war seit einer Weile nicht mehr im Gebäude gewesen, doch es war alles noch genauso vertraut wie früher. Alan hatte das Revier geleitet, als sie einander kennen gelernt hatten. Ein nostalgisches Gefühl stieg in ihr auf, obwohl sie kritisch genug blieb, um zu sehen, dass die Räume einen Anstrich bitter nötig hatten. Sie fragte sich, wer nun das Revier leitete. Eine Weile war ein gewisser Inspector Winter da gewesen, doch sie glaubte sich zu erinnern, dass er abgezogen worden war. Es spielte keine Rolle. Das, weswegen sie hergekommen war, erforderte keinen Beamten höheren Ranges. Der Sergeant vom Dienst war vollkommen ausreichend.
Doch der Sergeant vom Dienst war beschäftigt. Meredith wartete einige Minuten, während sie sich fragte, ob sie mit ihrem Besuch auf der Wache ihr Versprechen als eingelöst betrachten konnte, selbst wenn sie mit niemandem gesprochen hatte. Sie war bereit, wieder zu gehen, und sagte sich, sie hätte schließlich versucht, die Sache zu melden, mehr konnte niemand von ihr verlangen, als eine weibliche Beamtin erschien.
»Kann ich Ihnen helfen?« Sie lächelte Meredith an. Sie war jung und hübsch mit blonden Haaren, die zu einem Knoten zusammengesteckt waren, und sie trug einen Dienstpullover, Hosen und schwere Stiefel.
Also konnte Meredith nicht unbemerkt entschlüpfen. Sie erklärte den Grund ihres Kommens.
»Sie sollten darauf achten, dass Ihre Hintertür verschlossen ist«, empfahl die junge Beamtin mit ernstem Blick.
»Es war helllichter Tag«, entgegnete Meredith.
»Das bedeutet nicht, dass niemand herumlungert. Diebe sind wie andere Menschen auch. Sie arbeiten lieber zu normalen Zeiten, außerdem ist dann das Risiko geringer, einen Alarm auszulösen. Die Leute schalten tagsüber meistens ihre Alarmanlagen aus. Die Nachbarn sind zur Arbeit. Eine unverschlossene Tür macht es ihnen leicht. Der Dieb muss nichts weiter tun, als hindurchzugehen, und kann sich nach Herzenslaune bedienen.« Meredith begann zu verstehen, wie sich Mrs Etheridge gefühlt haben musste, als sie den Diebstahl ihrer Geldbörse gemeldet hatte. Offensichtlich war die alte Dame auf wenig mitfühlende Ohren gestoßen. Ein Anflug von Verärgerung stieg in Meredith auf.
»Haben Sie viel verloren?«, erkundigte sich die Beamtin.
»Ich habe überhaupt nichts verloren. Ich sagte doch bereits, ich habe ihn gestört. Aber es hätte auch anders ausgehen können. Die meisten meiner Nachbarn sind ältere Leute. Einer Dame wurde die Geldbörse vor der Haustür gestohlen. Sie hat den Diebstahl hier gemeldet. Ich habe mit ihr gesprochen, und wir glauben beide, dass es der gleiche Junge gewesen ist.«
»Damit haben Sie wahrscheinlich Recht«, räumte die hauptberufliche Vertrösterin in Uniform ein.
»Aber falls er tatsächlich so jung ist, wie Sie sagen, können wir ihm nichts anhaben. Wenn überhaupt, dann ist es ein Fall für das Jugendamt. Falls sich herausstellt, dass er ein Ausreißer ist und bereits unter Vormundschaft steht, dann wird es ihn nicht davon abhalten, weiter seine Spielchen zu spielen. Warten Sie ab, bis er sechzehn geworden ist.«
»Großartig!«, murmelte Meredith.
»Geben Sie nicht uns die Schuld, unsere Hände sind gebunden«, sagte die junge Frau.
»Wir können Sie höchstens beraten, wie Sie Ihr Heim sicherer machen können, wenn Sie interessiert sind. Eine Sicherheitskette vor der Tür, Sicherheitsriegel an den Fenstern, lassen Sie niemanden herein, den Sie nicht persönlich kennen oder der Ihnen nicht einen Ausweis zeigen kann. Hier …« Sie streckte die Hand nach einem Drehturm mit Broschüren aus und reichte Meredith ein paar Informationsblätter.
»Nehmen Sie die hier. Darin finden Sie bestimmt weitere Anregungen.« Meredith verließ die Wache mit den Flugblättern unter dem Arm. Sie war froh, dass sie Alan gegenüber bisher nichts von dem versuchten Einbruch erwähnt hatte, und nach dieser Erfahrung würde sie es auch ganz bestimmt nicht tun.
KAPITEL 11
»DU MUSST sie daran hindern, Alan! Stell dir doch nur vor, was passieren könnte, wenn Kate Drago nach Tudor Lodge umzieht!« Alan Markby drehte sich mit der Weinflasche in der Hand zu ihr um und sah sie an. Er hatte das Bezirksgebäude am frühen Nachmittag verlassen und nun endlich Wochenende. Er freute sich auf einen entspannten Abend mit Meredith, doch wie es schien, hatte er sich zu früh gefreut. Es funktionierte niemals so, wie er mit aufsteigendem Ärger bemerkte. Und er hatte bisher nicht einmal eine Chance gehabt, mit ihr über seine Pläne für das restliche Wochenende zu sprechen. Der Tag war kühl, und sie hatten das Feuer im Kamin angezündet. Markbys Haus stammte aus viktorianischer Zeit und besaß immer noch offene Kamine. Bevor Meredith in sein Leben getreten war, hatte er dieses Zimmer nur selten benutzt, das die ursprünglichen Besitzer zweifelsohne als Salon gedacht hatten. Markby hatte mehr oder weniger in der Küche gelebt. Dann hatte Meredith ihr eigenes kleines Haus in der Station Road gekauft. Sie hatte erklärt, dass sie nicht beabsichtigte, die ganze Zeit auf das Spülbecken zu starren, falls sie zu ihm kam, um den Abend bei ihm zu Hause zu verbringen. Also hatte Markby den Salon gewissermaßen wieder auf Vordermann gebracht. Was bedeutete, dass er Decke, Wände und Holzpaneele gestrichen und zwei behagliche Sessel und einen Beistelltisch gekauft hatte. Seine Schwester Laura hatte ein Sideboard aus Rosenholz beigesteuert, das sie auf einer Auktion ersteigert hatte.
»Ich dachte, es würde perfekt in dein Wohnzimmer passen, Alan, es stammt aus der gleichen Periode wie dein Haus, weißt du?«, waren ihre Worte gewesen. Das Sideboard mochte aus der richtigen Periode stammen, doch nach Markbys Meinung war es ein düsteres altes Ding, das ihn an seinen verstorbenen Onkel Henry erinnerte, den letzten Viktorianer in seiner Familie. Markby hoffte insgeheim (obwohl es wahrscheinlich jeder wusste, der die beiden kannte), das Meredith eines Tages bei ihm einziehen würde, und ihm war durchaus bewusst, dass er ihr mehr bieten musste als ein antikes Rosenholz-Sideboard und zwei Parker-KnollSessel, bevor das geschah. Meredith saß vor den knisternden Flammen auf dem Fußboden, ohne die winzigen Fünkchen zu beachten, die immer wieder auf ihrer Kleidung landeten und Brandflecken zu verursachen drohten. Draußen war es noch relativ hell, doch in dieses Zimmer fiel selten Licht. Aus diesem Grund hatte Markby eine kleine Leselampe auf dem Sideboard eingeschaltet. Merediths Gesicht leuchtete im Schein der Flammen und der Leselampe rosig weich, und ihre kastanienbraunen Haare, die zu einer Pagenfrisur geschnitten waren, schimmerten seidig. Sie trug einen weiten Pullover mit einem eigenartigen Muster, blauer Hintergrund mit rosa Schweinchen, die in einer Reihe von links nach rechts marschierten, und hatte die Arme auf den angezogenen Knien liegen. Er wünschte, er wünschte …
»Alan?«, hakte sie nach.
»Was denn?« Er erinnerte sich, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte, der eine entschiedene Bitte vorangegangen war, doch er fühlte sich außer Stande, eine befriedigende Antwort zu geben.
»Ich kann nicht«, sagte er einfach.
»Kann nicht« war eine Aussage, die in Merediths Vokabular nicht vorkam. Sie sah ihn ernst an.
»Aber irgendjemand muss es tun! Ich tue mein Bestes, aber wenn du noch einmal mit ihr reden würdest, quasi offiziell, als Polizist, Herrgott im Himmel! Oder willst du mir etwa sagen, dass es deiner Meinung nach richtig ist? Ehrlich, Alan! Kate Drago war die letzte Person, soweit wir wissen, die Andrew lebend gesehen hat, und ihr Verhalten ist mehr als eigenartig!« Er schenkte die beiden Weingläser voll, um Zeit zu gewinnen, in der er eine Antwort formulieren konnte, dann stellte er die Flasche ab und ging mit den beiden Gläsern zum Kamin. Der Wein leuchtete in rubinroten Farbtönen, als Flammen über das frisch aufgelegte Holzscheit züngelten und es schließlich in Brand steckten.
»Selbstverständlich halte ich es nicht für richtig!«, sagte er, während er ihr ein Glas reichte.
»Ich stimme dir zu, dass man die Aussage Kate Dragos nur mit Vorsicht genießen darf. Sie ist eine Tatverdächtige, wenn nicht mehr. Aber wir haben bisher nicht genug, um sie zu verhaften. Sie ist eine Verwandte der Penhallows, auch wenn sie völlig unerwartet aus dem Nichts hier aufgetaucht ist. Es ist einzig und allein Carlas Entscheidung. Wenn sie sagt, dass sie Kate bei sich haben möchte, dann kann ich das nicht verhindern. Und ich verstehe sehr gut, dass Carla und Luke sie von den Reportern fern halten wollen.«
»Sie ist mehr als eine Tat verdächtige, Alan! Sie ist wahrscheinlich die Täterin!« Meredith nahm ihr Glas entgegen und trank einen Schluck von ihrem Wein, ohne den Blick von Alan zu nehmen.
»Ja – und nein. Offen gestanden, ich habe wenigstens eine weitere Tatverdächtige. Also schön!« Er hob die Hand, um ihren Protest abzuwehren.
»Sie war die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat, soweit wir feststellen konnten. Außer dem Mörder, falls sie nicht mit ihm identisch ist, das gebe ich zu. Ich gebe auch zu, wäre nicht die Tatsache, dass sie seine Tochter ist, würde ich sie wohl bereits verhaftet haben. Aber die Sache ist komplizierter, als es auf den ersten Blick hin scheinen mag. Wir reden hier von Vatermord. Ich glaube einfach nicht, dass sie nach Bamford gekommen ist, um ihren Vater umzubringen. Ich glaube vielmehr, dass sie hergekommen ist, um ihn zu zwingen, sie seiner legitimen Familie vorzustellen und als Tochter anzuerkennen. Und dazu brauchte sie ihn lebend, Meredith. Sie wollte seinen Tod nicht. Wir haben sie verhört, und sie war ziemlich offen. Sie hatte keinen Grund, den Mann zu töten. Ohne Andrew Penhallow hat sie keinerlei Möglichkeit, als Familienmitglied anerkannt zu werden. Er war ihre Verbindung zu den Penhallows.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Meredith entschieden.
»Solange er am Leben war, hielt er sie von seiner Familie fern und in Cornwall, wo sie aus den Füßen war. Jetzt, da er tot ist, sieht es so aus, als hätte sie sehr schnell eine Einladung nach Tudor Lodge erhalten. Innerhalb von achtundvierzig Stunden, stell dir vor! Das nenne ich einen zügigen Fortschritt, und alles war nur möglich, weil Andrew ermordet wurde. Sie hat ein starkes Motiv, Alan, vielleicht hat sie ihren Vater gehasst!«
»Aber sie konnte nicht wissen, was nach seinem Tod geschehen würde«, beharrte er.
»Viel wahrscheinlicher wäre doch gewesen, dass Carla sich geweigert hätte, sie auch nur zu sehen! Soweit es Kate Drago betrifft, ist es reines Glück, dass sich die Dinge in dieser Weise entwickelt haben. Außerdem hat die Untersuchung ihrer Kleidung nichts Verdächtiges zu Tage gefördert. Kein Blut, keine Geweberisse, die von einem Handgemenge herrühren könnten. Wir fanden gelbe Fasern von ihrem Schal an einem Busch neben dem Küchenfenster, die ihre Aussage untermauern, dass sie dort gestanden und ihn beobachtet hat. Doch wir fanden keine Fasern unter seinen Fingernägeln, die zu ihrer Jacke passen oder irgendeinem anderen Kleidungsstück, das sie zu diesem Zeitpunkt getragen hat.« Meredith hatte sehr genau zugehört.
»Ihr habt also Faserreste unter seinen Fingernägeln gefunden?«
»Entschuldige, aber darüber darf ich dir nichts sagen.« Er hatte beschlossen, dass die Entdeckung der blauen Fasern unter Penhallows Fingernägeln nicht bekannt gegeben werden sollte – nicht solange eine Chance bestand, das Kleidungsstück zu finden, von dem sie stammten. Meredith dachte nach, und Markby trank von seinem Wein, während er auf ihre nächsten Worte wartete.
»Selbst wenn«, begann sie schließlich,
»selbst wenn ich einräume, dass Kate nicht unbedingt die Täterin ist, kann ich immer noch nicht glauben, dass du es für eine gute Idee hältst, wenn sie in Tudor Lodge einzieht, zur Familie des Toten.«
»Das tue ich auch nicht. Ich gestehe, darauf gehofft zu haben, irgendeine Reaktion hervorzurufen, indem wir Kate auf freiem Fuß lassen, doch das hatte ich nicht erwartet. Hätte ich gewusst, was Carla vorhat, hätte ich ganz bestimmt eingegriffen und ihren Plan im Keim erstickt. Aber wir wussten nicht, dass sie vorhatte, Kate nach Tudor Lodge einzuladen, und jetzt hat sie es, wie du sagst, bereits getan.«
»Sie hat eine Nachricht im Hotel hinterlassen, weil Kate nicht da war«, sagte Meredith.
»Ich vermute, Kate hat sie inzwischen bekommen. Ich frage mich, wo sie gewesen ist?«, sinnierte Meredith stirnrunzelnd.
»Ich meine, warum war sie nicht im Crown? Du hast ihr doch gesagt, sie soll im Hotel bleiben?«
»Damit wir sie in Bamford jederzeit erreichen können, ja. Ich habe ihr nicht verboten, den Fuß vor die Tür zu setzen, das kann ich auch gar nicht. Vielleicht hat ihr junger schicker Anwalt sie zum Essen eingeladen, bevor er nach London zurückgefahren ist. Wahrscheinlich hat er das getan, ja. Er wollte sicher noch mit ihr über den Fall sprechen, seine Mandantin auf unsere nächsten Fragen vorbereiten und ihr erklären, was wir tun. Soweit wir wissen, war sie noch nie in eine Morduntersuchung verwickelt. Sie wird weder die entsprechenden Paragrafen noch unsere Verfahrensweisen kennen. Er hingegen schon. Außerdem ist das Essen im Crown nicht gerade aufregend, und sie hat sich ununterbrochen darüber beschwert. Sie beschwert sich übrigens ziemlich häufig!«, fügte Markby vehement hinzu. Meredith strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Habt ihr die Mordwaffe denn inzwischen gefunden?«
»Weder gefunden noch identifiziert. Ein stumpfer Gegenstand, das ist alles, was wir sagen können. Ein stumpfer Gegenstand, der ein sehr merkwürdiges Muster hinterlässt, aber was es nun genau ist, da stehen wir vor einem Rätsel.« Meredith schwieg, doch Markby war sicher, dass sie über einen neuen Ansatzpunkt nachdachte. Und richtig:
»Wusstest du, dass es hinter dem Garten von Tudor Lodge einen großen alten Kastanienbaum gibt, dessen Äste über die Mauer bis zum Boden reichen? Man kann sehr einfach hinüberklettern, von beiden Seiten.«
»Vermutlich hast du es auch schon ausprobiert«, sagte Markby und verdrehte die Augen.
»Ja, rein zufällig habe ich es bereits ausprobiert«, sagte sie.
»Warum frage ich überhaupt? Rein zufällig ist uns der Baum aufgefallen, und ja, rein zufällig haben wir Spuren auf den Ästen und am Stamm entdeckt, von denen einige, wie ich leider gestehen muss, von einem übereifrigen Constable während der Suchaktion verursacht wurden. Die anderen Spuren könnten von Kindern stammen. Es ist genau die Sorte Baum, in die Jungen klettern – und Mädchen, wie ich soeben herausfinden musste.« Er stockte.
»Sonst noch irgendwelche Entdeckungen während deines unbefugten Streifzugs über ein fremdes Grundstück?«
»Nein. Aber kennst du den Besitzer der Tankstelle ein kleines Stück hinter Tudor Lodge, unmittelbar hinter den Reihencottages?«
»Harry Sawyer, er ist ein Einheimischer.«
»Nun ja, er hat Andrew mehrfach gefragt, ob dieser ihm das Grundstück zwischen Tankstelle und Cottages verkaufen würde. Es gehört zu Tudor Lodge, das Anwesen war früher einmal größer, bis die Cottages verkauft wurden. Wie dem auch sei, Andrew wollte nicht verkaufen, er hat sich rundweg geweigert. Harry wollte nämlich einen Ausstellungsraum darauf bauen und Vertragshändler für eine große Automarke werden.«
»Und woher hast du das nun wieder?«, fragte Markby irritiert. Er hatte nichts davon gewusst. Es war vielleicht unwichtig, trotzdem hätte einer seiner Beamten es herausfinden müssen. Immer wieder ist es Meredith, dachte er resignierend, die mit derartigen Informationen kommt.
»Von Harry selbst und von Luke Penhallow, der es schließlich wissen muss. Andrew befürchtete, dass der Ausstellungsraum zusätzlichen Verkehr und zusätzliche Belästigungen mit sich bringen könnte. Er hatte wahrscheinlich Recht damit, und ich muss sagen, ich kann seinen Standpunkt verstehen. Diese Tankstelle leuchtet die ganze Nacht lang wie ein Signalfeuer. Irene Flack schien überrascht, als sie erfuhr, wem das Grundstück gehört, deswegen nehme ich an, dass es nicht allgemein bekannt ist. Irene hat geglaubt, das Land würde längst Harry Sawyer gehören.« Als Alan nicht antwortete, hob sie fragend die Augenbrauen.
»Was denkst du?« Er stellte sein Glas ab.
»Ich sollte sagen, an die Arbeit und dass du interessante Informationen geliefert hast. Es sind tatsächlich interessante Informationen, und wir werden dem nachgehen. Aber ich versuche, die Sache bis Montag aus dem Kopf zu kriegen. Ich habe im Springwood Hall angerufen …«
»Dem Hotel?«
»Ich dachte, wir fahren später rüber, essen richtig gut zu Abend und bleiben über Nacht dort … Wir verbringen unser Wochenende dort, oder besser das, was davon noch übrig ist.« Meredith lächelte ihn unter ihrem Lockenschopf hindurch an.
»Das klingt gut. Ich wollte nämlich wirklich ein wenig mehr Zeit mit dir verbringen, als ich früher von diesem Lehrgang zurückgekommen bin …« Alan hatte sich die nächsten Worte eigentlich verkneifen wollen, doch nun kamen sie trotzdem über seine Lippen.
»Ich habe in letzter Zeit viel über uns nachdenken müssen.« Sie spielte nicht auf Zeit, indem sie vorgab, nicht zu wissen, worauf er hinauswollte.
»Es ist meine Schuld«, sagte sie.
»Nein, es ist meine. Die Polizeiarbeit, wie üblich. Aber wenn wir zusammen wären, ich meine, wenn wir unter einem Dach wohnen würden, dann würden wir uns wenigstens zwischendurch sehen.« Er grinste wehmütig.
»Und wenn es nur flüchtig wäre, wenn wir morgens aneinander vorbeirennen auf dem Weg zur Arbeit.«
»Es ist trotzdem meine Schuld«, beharrte sie.
»Ich zaudere und zögere und weiß nicht, was ich will.« Sie blickte ihn unsicher an.
»Können wir nicht so weitermachen wie bisher?« Er schüttelte den Kopf.
»Oh.« Sie starrte ihn bestürzt an, doch dann riss sie sich zusammen.
»Das war eine dumme Frage. Natürlich können wir nicht.«
»Ich kann nicht«, sagte Markby.
»Das ist das Problem. Es tut mir Leid, aber so ist es nun einmal. Hör zu, ich bin nicht so böse oder eingebildet, dass ich dir ein Ultimatum setzen würde. Ich nehme an, wenn du darauf bestehst – das heißt, wenn du glaubst, es ist der einzige Weg, wie wir unsere Beziehung erhalten können, dann muss ich mich wohl damit abfinden. Auf der anderen Seite habe ich eine gescheiterte Ehe hinter mir, und ich weiß, dass man die Kastanien manchmal selbst aus dem Feuer holen und ein paar harte Entscheidungen treffen muss, wenn die Dinge nicht so laufen, dass man zufrieden ist. Was man nicht machen darf, ist, sich einfach treiben lassen.«
»Carla hat etwas ganz Ähnliches gesagt. Dass du … dass ich mich endlich entscheiden soll.« Markby schnaubte.
»Unter den gegebenen Umständen ist Carla wohl kaum in der Lage, in Liebesangelegenheiten als Ratgeberin zu agieren!«
»Vielleicht ist sie es doch. Sie hat mir gegenüber eingeräumt, dass sie von Andrews Geliebter wusste und dass er es ihr niemals freiwillig gesagt hätte. Sie ist sogar nach Cornwall gefahren, weißt du, und hat alles herausgefunden.«
»Nein, das wusste ich nicht. Allerdings finde ich es nicht weiter überraschend. Ich wäre im Gegenteil überrascht gewesen, wenn Carla abgestritten hätte, auch nur einen Verdacht gegen Andrew zu hegen. Carla ist viel zu schlau, um die verräterischen Zeichen übersehen zu haben. Andrew muss im Verlauf der Jahre einfach hin und wieder ein Fehler unterlaufen sein. Hat Carla denn nie daran gedacht, ihn zu verlassen?«
»Sie hat daran gedacht, aber dann hat sie sich dagegen entschieden. Er schien ihre Beziehung zu schätzen und wollte seine Ehe aufrechterhalten, also beließ sie es dabei. Außerdem musste sie an den kleinen Luke denken und an die Schlagzeilen in der Presse. Sie ließ die Dinge treiben und hat das Problem nie zur Sprache gebracht. Und sieh nur, wo es geendet hat!«
»Ich sehe nichts derart Dramatisches in unserem Fall«, entgegnete Alan trocken.
»Ich weiß, dass es vielleicht ein sehr merkwürdiger Augenblick ist für meine Frage, aber ich stelle sie trotzdem. Möchtest du mich heiraten?«
»Ich bin mir bewusst, dass ich mir bereits mehr als genug Zeit genommen habe, um zu einer Entscheidung über uns zu gelangen. Trotzdem brauche ich noch ein wenig mehr, um dir eine Antwort zu geben. Kannst du so lange warten? Nur noch eine kleine Weile länger?«
»Wenn ich eine Antwort erhalte.« Sie nickte.
»Ja. Du wirst eine Antwort bekommen.«
Auch Sergeant Prescott hatte einen geschäftigen Tag. Er hatte Kates Erzählung über ihre Reise als Tramperin nach Bamford nachgeprüft. Er hatte den Parkplatz gefunden und mit Wally gesprochen. Er hatte mit sämtlichen anderen Fahrern gesprochen, die er dort vorgefunden hatte, und obwohl keiner von ihnen zum fraglichen Zeitpunkt dort gewesen war, kannten einige von ihnen Eddie Evans. Evans, so erfuhr Sergeant Prescott, sei ein verlässlicher Bursche und ein Familienmensch. Sie nannten Prescott sogar die Heimatstadt, von der aus Eddie sein Ein-Mann-Fuhrunternehmen betrieb.
Prescott war überzeugt, dass Kate während der langen Fahrt mit Evans geredet haben musste. Er musste den Mann sowieso befragen. Doch das war nicht so leicht zu bewerkstelligen. Obwohl es nicht weiter schwierig war, Eddies genaue Anschrift herauszufinden – ein einziger Telefonanruf reichte –, wurde er von Eddies Frau, die den Anruf entgegennahm, in Kenntnis gesetzt, dass Eddie an diesem Morgen aufgebrochen war, um eine Ladung auf den Kontinent zu bringen. Er war inzwischen sicherlich bereits über den Kanal, und sie erwartete ihn erst gegen Ende der kommenden Woche wieder zurück.
»Warum so lange?«, fragte Pearce schroff.
»Wohin in Frankreich ist er denn unterwegs?«
»Ich habe nicht gesagt, dass er nach Frankreich fährt«, entgegnete Mrs Evans.
»Ich sagte, er ist auf dem Kontinent. Er bringt die Ladung nach Ostende. Danach fährt er weiter, um eine neue Ladung aufzunehmen, mit der er anschließend zurückkehrt.« Prescott entschuldigte sich für seinen Irrtum.
»Also schön, und wo genau fährt er hin, um seine neue Ladung aufzunehmen?«
»In die Türkei«, beschied ihn Mrs Evans.
Nachdem er Eddie Evans nicht hatte aufspüren können, hatte sich Prescott als Nächstes dem Nachtportier im Crown Hotel zugewandt, einem gewissen Andy, der in einem Dorf fünf Meilen außerhalb von Bamford lebte. Er hatte Andy in seinem Garten vorgefunden, einen kleinen, runzligen Mann mit einer Mütze und schmuddeligen Arbeitshosen.
Zu Prescotts beträchtlicher Bestürzung hatte Andy eine Ladung Pferdedung erworben und stand im Begriff, den Dung unterzugraben, als der Sergeant vor Ort eintraf. Er ging hastig in Luv und rief Andy aus sicherer Entfernung seine Fragen zu.
Ohne die Arbeit zu unterbrechen, berichtete Andy, dass Kate Drago das Hotel am Abend des Mordes gegen neun Uhr verlassen hätte. Er könnte die Zeit nicht beschwören, aber er wäre ziemlich sicher, dass es gegen neun gewesen war.
»Sie hat mich nach einem Taxi gefragt. Ich habe ihr gesagt, wo der Stand liegt, und sie gewarnt, dass es um diese Zeit schwer werden könnte, einen Wagen zu finden. Viel zu tun, verstehen Sie. Wer heutzutage ausgeht, um etwas zu trinken, nimmt nicht mehr den eigenen Wagen. Ich weiß nicht, ob sie ein Taxi gefunden hat oder nicht. Sie hat nicht gesagt, wohin sie wollte. Das ist wirklich guter Dung, wissen Sie? Ich kriege ihn vom Reitstall drüben. Das ganze Geheimnis besteht darin, ihn richtig verrotten zu lassen.«
Würgend erkundigte sich Prescott, um welche Zeit Miss Drago zurückgekehrt sei. Auch bei dieser Antwort blieb Andy ausweichend.
»Das dürfte kurz nach halb elf gewesen sein. Nein, ich würde nicht sagen, dass sie nervös aussah. Eher schlecht gelaunt, wenn Sie mich fragen.«
»Wie meinen Sie das?«, rief Prescott von der anderen Seite des Grundstücks.
»Als hätte sie ihren Willen nicht durchgesetzt«, antwortete Andy.
»Was haben Sie denn? Sie sehen ja ganz grün aus im Gesicht?« Anderthalb Stunden, dachte Prescott, während er sich bedankte und hastig verabschiedete. Nicht viel Zeit, um nach Tudor Lodge zu gehen, ihren Vater zu erschlagen, die Spuren zu verwischen und zurückzukehren. Trotzdem, Zeit genug.
»Verdammt!«, sagte er traurig. Sein langer, frustrierender Tag war endlich zu Ende. Endlich war der Dienst vorbei, und er konnte nach Hause gehen. Er war kein Einheimischer, wohnte jedoch in Bamford, weil er nirgendwo eine preiswertere, besser gelegene Unterkunft gefunden hatte. Die kleine Wohnung lag über einem Geschäft in der High Street. Zur Wohnung gehörte keine Garage, und so war Prescott gezwungen, seinen Wagen ein Stück weit entfernt auf einem gemieteten Abstellplatz zu parken. Von dort kam er nun zu Fuß, als er Kate Drago begegnete. Seine Gedanken hatten so sehr um sie gekreist, dass er im ersten Augenblick meinte, er bildete sich ein, sie zu sehen. Doch nein, dort kam sie, unverwechselbar, mit einer Plastiktüte in der Hand aus dem Drogeriemarkt der Stadt marschiert. Der Sergeant beschleunigte seine Schritte und rief laut nach ihr.
»Hallo! Kate – Miss Drago!« Sie hatte ihn nicht gesehen, doch als sie ihren Namen hörte, blieb sie stehen und drehte sich misstrauisch um, während sie in Gedanken bereits eine Abfuhr formulierte. Doch als sie sah, wer gerufen hatte, zögerte sie, ohne dass ihr Blick ermutigender geworden wäre als zuvor.
»Werde ich jetzt bereits durch die Stadt verfolgt?«, fragte sie.
»Nein, selbstverständlich nicht!«, protestierte Prescott.
»Ich bin nicht im Dienst!«
»Aha.« Sie machte Anstalten zu gehen.
»Augenblick!«, drängte Prescott impulsiv und sagte, indem er sich vom Türschild eines nahe liegenden Teeladens inspirieren ließ:
»Hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee oder Kaffee oder … irgendwas?«
»Haben Sie nichts anderes zu tun?«, entgegnete Kate Drago.
»Wo Sie doch nicht im Dienst sind?«
»Nein«, antwortete Prescott wahrheitsgemäß.
»Ich wohne hier, über dem Kleidergeschäft dort hinten. Ich wollte mir sowieso einen Tee machen, wenn ich nach Hause komme. Ich lade Sie ein … aber es ist nichts Großartiges.«
»Ich würde eine solche Einladung wohl kaum annehmen, Sergeant!«, entgegnete Kate kühl. Er errötete.
»Nein, das … das hatte ich auch nicht gemeint, ich meine … hören Sie, das Café ist wirklich sehr hübsch. Es gibt Kuchen dort und alles Mögliche.«
»Also schön«, sagte sie unerwartet. Als sie in dem beengten Café Platz genommen hatten, stellte sie ihre Plastiktüte auf dem Boden ab und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Sie hatten einen Tisch im hinteren Teil gefunden. Das Café war ziemlich belebt, die Kundschaft bestand hauptsächlich aus Frauen mittleren Alters, die letzten der
»Fünf-Uhr-Tee-Gesellschaft«. Bald würde es sich leeren, und kurze Zeit später würden die ersten Abendgäste kommen und leichte Mahlzeiten bestellen. Um halb sieben schloss das Café. Für jemanden von Prescotts Statur gab es nicht viel Platz. Er war unbequem zwischen Tisch und Wand eingequetscht und riskierte bei jeder unbedachten Bewegung, eine Vase mit Seidenblumen umzustoßen, die auf dem Tisch ihren Platz gefunden hatte. Kate Drago beobachtete ihn mit unverhohlener Belustigung.
»Kommen Sie oft hierher, wie es so schön heißt?«
»Nein«, antwortete Prescott.
»Jedenfalls nicht allein, nein das würde ich nicht tun. Es ist nicht gerade meine Sorte von Lokal, wissen Sie?«
»Und warum wollten Sie mich dann hierher bringen?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich dachte, Sie wären vielleicht allein und würden ein wenig Gesellschaft suchen«, bemühte er sich um eine Rechtfertigung seiner Handlungsweise.
»Sie haben ja momentan nichts außer dem Hotel, wo Sie hinkönnen. Ihr Anwalt ist nach London zurückgefahren, nehme ich an?«
»Ja, er ist wieder in London.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, während sie ihn beobachtete.
»Sie haben mich doch nicht hierher eingeladen, weil Sie mich ein wenig außerhalb Ihres Dienstes ausquetschen wollten, oder? Ein paar Pluspunkte beim Superintendent sammeln?« Auf diese Weise provoziert, verklang Prescotts Verlegenheit rasch.
»Moment mal«, sagte er streitlustig,
»so nicht. Ich bin den ganzen Tag lang in der Gegend herumgefahren, von Pontius zu Pilatus, um Ihre Geschichte zu überprüfen. Wie Sie nach Bamford gekommen sind. Ich brauche keine Pluspunkte.« Kates Blick, der tolerant gewesen war, seit sie das Café betreten hatten, wurde sofort wieder misstrauisch.
»Und? Hatten Sie Erfolg? Sind Sie zufrieden?«
»Mehr oder weniger. Der Lastwagenfahrer, der Sie an der Abfahrt nach Bamford rausgelassen hat, ist zurzeit im Ausland.«
»Und was soll er Ihnen verraten, abgesehen davon, dass er meine Angaben bestätigen wird, wo und wann er mich rausgelassen hat? Ich habe mich nicht mit ihm unterhalten, falls Sie darauf spekulieren. Das ist nicht mein Stil. Er hat ein wenig über seine Tochter geredet und hat mir jede Menge väterlicher Ratschläge über die Gefahren des Trampens mit auf den Weg gegeben.«
»Womit er nicht Unrecht hatte«, sagte Prescott, obwohl ihm bewusst war, wie spießig er klingen musste.
»Ich meine, es ist bestimmt nicht ungefährlich für eine junge Frau wie Sie.«
»Wie mich?«
»So hübsch«, sagte Prescott und errötete.
»Oh.« Sie lehnte sich zurück.
»Warum sind Sie zur Polizei gegangen, Sergeant?«
»Ich heiße Steve«, erbot er sich. Die Kellnerin erschien.
»Entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten. Was darf es sein?« Sie hielt einen Schreibblock und einen Stift.
»Äh … Tee, zweimal …«, Prescott sah Kate nervös an.
»Oder möchten Sie lieber Kaffee?«
»Tee ist in Ordnung«, sagte sie.
»Kuchen?«, fragte die Kellnerin.
»Wir haben Teekuchen, Biskuits, Sahneröllchen, Rüblitorte, und ich glaube, es ist auch noch ein wenig Zitronenbaiser da. Alles andere ist bereits aus. Wir hatten viel Betrieb.« Sie bestellten Rüblitorte. Das heißt, Kate entschied sich dafür, und Prescott schloss sich an, obwohl er persönlich Karotten in einem Kuchen ein wenig eigenartig fand. Er hatte immer geglaubt, unwissend wie er in solchen Dingen war, Kuchen enthielte lediglich Zutaten wie Zucker und Eier und getrocknete Früchte. Karotten gehörten auf einen Teller zusammen mit Kartoffeln und Braten.
»Nun?«, hakte Kate nach, als die Kellnerin endlich gegangen war.
»Warum ich zur Polizei gegangen bin? Ich dachte, es wäre interessant und ich könnte Karriere machen.« Prescott legte die Stirn in Falten, während er nach einem Grund suchte, der in ihren Augen Sinn ergeben mochte.
»Es bot mir Gelegenheit zum Sport.«
»Und? Ist es interessant?«
»Manchmal. Es gibt eine Menge langweiliger Routine. Aber das ist bei jedem Beruf so, oder nicht? Man lernt interessante Leute kennen …« Er spürte, wie er von neuem errötete. In ihren Augen glitzerte Belustigung.
»Wie beispielsweise mich?«
»Wie Sie, ja«, gestand er einfach. Sie nahm das Kompliment überhaupt nicht gut auf. Die Blässe auf ihren Wangen wich einem leuchtenden Rot, und ihre Augen blitzten aggressiv.
»Die Polizei will beweisen, dass ich meinen Vater getötet habe!«
»Nein!« Prescott war ehrlich schockiert.
»Sie … wir wollen herausfinden, was tatsächlich passiert ist, weiter nichts.« Die Rüblitorte traf ein. Erleichtert stellte Prescott fest, dass sie wie ganz normaler Kuchen aussah. Kate nahm ihre Gabel und stocherte in ihrem Kuchen.
»Glauben Sie, dass ich ihn ermordet habe?«
»Nein!«, protestierte er, obwohl er wusste, dass er nicht mit ihr darüber sprechen durfte, nicht einmal außer Dienst und inoffiziell. Doch er spürte kein Bedauern. Sie trug ihr Haar an diesem Tag zu einem Knoten hochgesteckt, und er wünschte, sie hätte es offen und weich über die Schultern fließend getragen wie bei ihrer ersten Begegnung. Der Tee kam ebenfalls. Die Kellnerin stellte die Tassen vor ihnen ab.
»Alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte sie und war wieder verschwunden, bevor einer von beiden Zeit zu einer Antwort gefunden hatte.
»Es wird Sie vielleicht interessieren«, sagte Kate, während sie die metallene Teekanne aufnahm und ihm Tee einschenkte,
»dass die Ehefrau meines Vaters genau wie mein Halbbruder von meiner Unschuld überzeugt sind.«
»Sind sie das? Ich meine, das ist gut!« Prescott hatte die Hand nach der Milch ausgestreckt, und dort verharrte sie nun. Er war überrascht, dass sie nicht zuerst Milch eingegossen hatte, doch nach dieser überraschenden Aussage vergaß er es. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatte noch nichts davon gehört, dass Carla Penhallow ihr angeboten hatte, für die Dauer ihres Aufenthalts in Bamford nach Tudor Lodge umzuziehen.
»Ja.« Sie sah ihm ins Gesicht, und er bemerkte ein spöttisches Glitzern in ihren Augen.
»Sie hatten Recht mit Ihrer Annahme, dass ich auf dem Rückweg ins Crown war, Sergeant – ich meine Steve. Aber nur, um meine Sachen zu packen. Ich bin froh, Ihnen sagen zu können, dass ich aus dieser schrecklichen Bude ausziehe. Ich wurde eingeladen, in Tudor Lodge zu wohnen.« Sie deutete auf die Plastiktüte zu ihren Füßen.
»Ich war nur gerade ein paar Kleinigkeiten besorgen, die ich brauche.« Das spöttische Glitzern verwandelte sich in ein triumphierendes Leuchten.
»Ich werde bei meiner Familie wohnen!«, sagte sie. Dieses fast spürbare Triumphgefühl, zusammen mit der unerwarteten Neuigkeit, verschlug Prescott die Sprache. Nach fast einer ganzen Minute griff er nach seiner Teetasse und gab ein wenig elegantes
»Ich werd verrückt …!« von sich. Das Lachen der jungen Frau hallte durch das Café, und die Frauen ringsum drehten neugierig die Köpfe nach ihnen um.
Carla blieb im Eingang zur Küche stehen, einen prall gefüllten Plastiksack in den Armen. Mrs Flack stand mit dem Rücken zur Tür am Spülbecken und wischte den Ablauf sauber. Sie drehte sich nicht um, doch sie musste ahnen, dass ihre Arbeitgeberin dort stand. Die Gestalt der Haushälterin strahlte Missbilligung aus.
Ein wenig verlegen sagte Carla:
»Danke sehr, Irene, dass Sie das Bett für unseren Gast bezogen haben und dafür, dass Sie auf Ihren freien Samstag verzichten und hergekommen sind, um uns zu helfen.«
Mrs Flack nahm sich Zeit. Sie wrang umständlich das Spültuch aus und hängte es über die Wasserhähne, bevor sie sich umwandte und antwortete.
»Keine Sorge, das geht schon in Ordnung, Mrs Penhallow.« Ihre Stimme klang verdächtig tonlos.
»Hören Sie, Irene«, sagte Carla und stellte den Plastiksack ab.
»Ich weiß, dass einige Leute es merkwürdig finden.«
»Mrs Penhallow, es steht mir nicht an«, unterbrach Mrs Flack ihre Arbeitgeberin,
»etwas dazu zu sagen, so viel ist gewiss!« Carla seufzte angesichts des fehlenden Zuspruchs und deutete auf den Sack zu ihren Füßen.
»Ich habe ein paar Sachen ausgemustert und dachte, dass Ihr Näh- und Strickzirkel vielleicht interessiert wäre?«
»Oh?« Mrs Flacks Interesse flammte auf, bevor ihr einfiel, dass sie eigentlich missgelaunt und keinesfalls bestechlich war. Ihr leerer Tonfall kehrte zurück.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Ich weiß, dass Sie die Wolle von guten Stricksachen auseinander ziehen und neue Sachen daraus machen, deswegen habe ich zwei von Andrews Pullovern hineingelegt, außerdem ein paar Vliesteile, die man zerschneiden kann, um daraus Babywäsche oder kleine Höschen zu nähen. Ich glaube, Sie hatten erwähnt, dass Sie Ihrem Zirkel als nächstes Babykleidung vorschlagen wollen?« Carlas Stimme klang einschmeichelnd, doch gleichzeitig blickte sie drein, als wollte sie sagen, dass es der Haushälterin tatsächlich nicht anstand, ihre Meinung zu verkünden. Steif kam Mrs Flack zu ihr, bückte sich und hob den Sack auf.
»Ich weiß es zu schätzen, herzlichen Dank. Ich habe meinen Wagen noch nicht aus der Werkstatt zurück, deswegen denke ich, dass ich den Sack bis morgen in der Abstellkammer lassen werde.« Ihr Tonfall klang ein ganz klein wenig besänftigt. Carla wartete ungeduldig, bis ihre Haushälterin mit dem Verstauen des Plastiksacks fertig und wieder in die Küche zurückgekehrt war.
»Irene, was die Tochter meines verstorbenen Mannes angeht … ich kann sehen, dass Sie mein Handeln nicht gutheißen. Trotzdem bin ich sicher, dass es das Richtige ist.«
»Es ist allein Ihre Entscheidung, Mrs Penhallow«, sagte Mrs Flack.
»Und dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Nicht bei mir.« Carla errötete.
»Es ist das, was Andrew gewollt hätte«, fügte sie störrisch hinzu. Mrs Flack mochte vielleicht bekundet haben, dass die Entscheidung ihrer Arbeitgeberin oblag, doch diesmal fühlte sie sich genötigt, einen Kommentar dazu von sich zu geben.
»Das ist nun wiederum etwas, das wir niemals mit Sicherheit wissen können, nicht wahr? Nicht, wenn wir von den lieben Verstorbenen sprechen. Wir können einfach nicht wissen, was sie getan hätten, oder?« Carla presste die Lippen so fest zusammen, dass sämtliche Farbe aus ihnen wich.
»Ich denke doch, dass ich weiß, wie mein Mann gedacht hat! Und ich weiß ganz sicher, wie ich denke und was ich tun möchte! Es tut mir Leid, wenn Sie dadurch zusätzliche Arbeit haben.« Nun war sie an der Reihe, sich abzuwenden und missmutig davonzugehen.
»Ich werde diese junge Frau jedenfalls genau im Auge behalten, darauf können Sie sich verlassen, meine Liebe!«, murmelte Mrs Flack ihr hinterher.
»Sie sind einfach viel zu gutmütig, Mrs Penhallow, und dieses Mädchen nutzt Ihre Großzügigkeit schamlos aus! Das ist es bestimmt nicht, was der arme Mr Penhallow gewollt hätte, ganz gleich, was Sie sagen. Er kann es unmöglich gewollt haben, oder er hätte es längst selbst getan, schon vor langer Zeit. Aber Mr Penhallow hat es nicht getan, oder? So viel dazu!« Sie nickte steif, überzeugt, im Recht zu sein.
KAPITEL 12
SONNTAGMORGEN und kaum Licht. Nebel zog über das offene Ackerland rings um die Stadt und hing in dichten Schwaden zwischen den gewellten Hügeln. Die Muntjakhirsche waren aus den Koniferenpflanzungen gekommen und nagten an dem rauen Gras in den Feuerschneisen. Auch Rehe gab es dort, doch sie hatten sich diesmal an ihre Zufluchtsorte zurückgezogen. Ein dumpfes Brausen, das einzige Geräusch, das die Stille durchschnitt, verriet die Richtung, in der die Autobahn lag. Dave Pearce, der auf dem Land aufgewachsen war, genoss diese Tageszeit in vollen Zügen. Er wäre am liebsten mit einer Flinte auf Kaninchenjagd gegangen. Doch wie die Dinge lagen, jagte er heutzutage andere Sachen. Er bog mit dem Wagen auf den Vorplatz von Sawyers Tankstelle ein. Hinter ihm folgten zwei Streifenwagen. Die Tankstelle war noch geschlossen. Falls Pearce sich richtig erinnerte, hatte Harry Sawyer zwar Sonntagmorgen geöffnet, doch er schloss um die Mittagszeit. Wahrscheinlich kamen Sonntagnachmittag nicht genug Kunden, um die Ausgaben für das Personal zu rechtfertigen.
»Warten Sie hier!«, befahl Pearce den Constables, die aus den Streifenwagen gesprungen waren. Rasch überquerte er die freie Fläche und ging über den schmalen Pfad, der sich am Hauptgebäude entlang zog und über das Grundstück dahinter zu Harrys heruntergekommenem Bungalow führte. Als der Bungalow in Sicht kam, blieb Pearce stehen und warf einen Blick in die Runde. Was für ein Kontrast zwischen diesem Haus und dem Rest der Tankstelle, dachte er. Die Tankstelle, die Zapfsäulen, der Hof, der Verkaufsbereich, alles funkelte und glänzte, war poliert, frisch gestrichen und verriet auf Schritt und Tritt den hart arbeitenden, ehrgeizigen Besitzer. Nicht so der Bungalow. Entweder hatte Harry keine Zeit für das Haus, oder es interessierte ihn nicht. Es war ein reiner Schlafplatz, wo er seine persönlichen Sachen aufbewahrte und sich seine Mahlzeiten zubereitete, Pearce und seine Frau Tessa hingegen hatten viel Zeit damit verbracht, ihr erstes gemeinsames Heim einzurichten. Daher erfüllte der Anblick dieser armseligen Behausung den Inspector nicht nur mit missbilligender Ablehnung, sondern mit etwas viel tiefer Sitzendem, das er nur zögerlich anzuerkennen bereit war. Pearce wusste, dass Sawyer vor Jahren von seiner Frau verlassen worden war. Jeder wusste es. Sawyer war ein Einheimischer. Überall in der Gegend gab es Sawyers, in jedem Dorf und jeder Gemeinde, und alle waren über irgendwelche Ecken miteinander verwandt und dem gleichen gemeinsamen Vorfahren entsprungen. Pearce tankte nie bei Harry, doch er kannte ihn vom Namen her. Jetzt jedoch wurde ihm bewusst, dass dieses traurige, heruntergekommene Heim mehr repräsentierte als das vernachlässigte Schlupfloch eines vielbeschäftigten Mannes. Es stand für eine gescheiterte Ehe und verlorene Träume. Vielleicht lag es tatsächlich nicht nur daran, dass Harry keine Zeit hatte. Vielleicht lag es daran, dass er das Haus von ganzem Herzen hasste und all seine Energie und seine Mühen auf die Tankstelle verwandte. Harry war bereits auf den Beinen und im Haus. In der Küche brannte Licht. Pearce riss sich zusammen, legte die letzten paar Meter ungepflegten Weges zum Haus zurück und klopfte fest an der Tür. Ein Hund schlug an. Es klang nach einem alten Hund, und er musste halb taub sein, wenn er Pearce nicht schon vorher gehört hatte. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und Harry erschien stirnrunzelnd und mit einem fadenscheinigen Handtuch zwischen den Fingern. Er hatte sich noch nicht rasiert und starrte seinen Besucher aus verschlafenen Augen an. Hinter ihm bemerkte Pearce einen alten Deutschen Schäferhund, der unsicher mit dem Schwanz wedelte.
»Was wollt ihr denn von mir, eh?«, erkundigte sich Sawyer ohne besondere Freundlichkeit. Pearce war an diese Art von Begrüßung gewöhnt. Er zeigte Sawyer seinen Dienstausweis.
»Ich weiß verdammt nochmal sehr gut, wer Sie sind«, sagte Sawyer, ohne einen Blick auf den Ausweis zu werfen.
»Ich hab Sie gefragt, was Sie von mir wollen? Die Tankstelle ist noch nicht geöffnet. Kommen Sie um acht Uhr wieder.«
»Ich möchte kein Benzin«, antwortete Pearce.
»Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Grundstück, Ihr Haus, Ihre Tankstelle und die Werkstatt …« Pearce zückte das Papier und hielt es Harry hin. Sawyer zeigte kaum mehr Interesse an dem Durchsuchungsbefehl als zuvor an Pearces Dienstausweis. Die lässige Art des Tankstellenbesitzers reizte den Inspector. Markby hatte am Vorabend angerufen und berichtet, dass der Ermordete und Harry Sawyer einen Streit gehabt hätten wegen eines Grundstücks. Sie hatten bisher keine Mordwaffe gefunden; es war ihnen nicht einmal gelungen festzustellen, was für ein Gegenstand es gewesen war, mit dem man Andrew Penhallow den Schädel eingeschlagen hatte, doch eine Werkstatt war voller Werkzeuge. Werkzeuge aller Art.
»Fahren Sie raus zu Sawyer!«, hatte der Superintendent angeordnet wie ein Mann, der nicht die geringste Lust verspürte, an einem Sonntag früh aufzustehen und selbst hinzufahren. Tatsächlich hatte es geklungen, als hätte Markby zumindest für diesen Sonntag ganz andere Pläne. Er hatte Pearce informiert, dass er von Samstagabend an, sprich dem Augenblick, an dem ihr Gespräch beendet wäre, bis spät am Sonntagabend nicht in der Stadt sein würde. Er wäre im Notfall im Springwood Hall Hotel and Country Club zu erreichen, und wehe jedem, der ihn ohne triftigen Anlass dort störte. Pearce wusste, was das bedeutete. Er fühlte mit seinem Chef. Keine Chance, dass er und Tessa dieser Tage auch nur für ein Wochenende ausspannen konnten. Wenn der Superintendent und seine Lady sich ein klein wenig Romantik gönnten, dann wünschte er den beiden alles Gute dabei. Er hatte sich noch am Samstagabend von einem nicht allzu glücklich dreinblickenden Richter einen Durchsuchungsbefehl besorgt. Seine Ehren hatte mit einer Fliege gerungen, die er sich im Verlauf der Vorbereitungen zu einem Dinner in seinem Golf Club hatte umbinden wollen, und seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass es sich nicht schon wieder um eine Gespensterjagd handelte, denn davon hatte sich die Polizei seiner Meinung nach in letzter Zeit entschieden zu viele geleistet. Folglich hatte sich Pearce genötigt gesehen, an diesem Morgen persönlich zu erscheinen und die Durchsuchung zu leiten. Er stand noch nicht lange genug im Rang eines Inspectors, um sich darin sicher zu fühlen, und das Letzte, was er brauchen konnte, war ein Rüffel seitens der örtlichen Richterschaft. Sergeant Prescott, dem Pearce vertraute, hatte an diesem Tag frei, und Pearce würde keine Ruhe finden, wenn er die Aufsicht über die Razzia jemand anderem überließ. Tessa war nicht gerade angetan von seinem Einsatz, weil ihre Schwester zum Mittagessen kommen würde, um die neu installierte Einbauküche zu bewundern.
»Was soll ich denn mit dem Braten machen?«, hatte sie ihm hinterhergerufen, als er das Haus verlassen hatte. Der alte Schäferhund kam nun auf arthritischen Gelenken herbeigehinkt und streckte die silberhaarige Schnauze vor, um an dem Besucher zu schnüffeln. Er starrte aus milchigen Augen zu Pearce hinauf, die wahrscheinlich kaum mehr sahen als einen verschwommenen Umriss. Die Hand des Tankstellenbesitzers sank herab und berührte den Hund hinter dem Ohr, und das Tier verlor sein Interesse an Pearce. Wenn sein Herr der Meinung war, der Besucher sei in Ordnung, dann hatte der Hund nichts dagegen einzuwenden. Er zog sich in den hinteren Bereich des staubigen Flurs zurück und ließ sich steif ächzend in einer Ecke nieder.
»Wonach suchen Sie überhaupt?« Harry Sawyers Blick wirkte mit einem Mal gehetzt und verriet Pearce, dass der Mann angesichts des Durchsuchungsbefehls wohl doch nicht so ungerührt war, wie er nach außen hin den Anschein erweckte.
»Ich mache nur reguläre Sachen. Keine Nebenjobs ohne Quittung, nichts dergleichen.«
»Ich bin nicht von der Steuerfahndung«, sagte Pearce.
»Und was wollen Sie dann hier, verdammt nochmal? Ich muss um Punkt acht Uhr die Tankstelle aufmachen! Das Mädchen für die Kasse kommt, und jeden Augenblick werden Zeitungen abgeliefert. Ich hab ein Geschäft zu führen!« Allmählich und ein wenig zu spät begann Sawyer zu dämmern, dass der Tag wohl anders verlaufen würde, als er angenommen hatte.
»Ich schätze, Sie können Ihre Zeitungen und so weiter verkaufen«, räumte Pearce unwillig ein.
»Aber die Werkstatt werden Sie nicht betreten.«
»Ich will nicht, dass Sie da reingehen und alles auf den Kopf stellen!« Der Hund blickte auf. Der veränderte Tonfall seines Herrn bereitete ihm Sorgen. Er stieß ein leises Winseln aus.
»Wir werden alles so zurücklassen, wie wir es vorfinden«, versicherte Pearce dem entrüsteten Tankstellenbesitzer.
»Das werden Sie ganz bestimmt nicht!«, widersprach Sawyer. Pearce war geneigt zuzugeben, dass er wahrscheinlich Recht hatte. Doch er war nicht in der Stimmung, Zeit mit einem Disput zu verschwenden. Er wandte sich ab und marschierte zum hinteren Eingang der Werkstatt, der Sawyers Bungalow zugewandt lag. Sawyer folgte ihm unter unablässigem Protest.
»Wie soll ich unter diesen Umständen arbeiten? Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, das ist Ihnen doch hoffentlich klar? Wie lange wird diese Aktion überhaupt dauern? Was soll das heißen, solange sie eben dauert? Wie lange genau, will ich wissen? Das können Sie nicht tun! Sie können mich nicht aus meinen eigenen Räumen aussperren! Wenn das gesetzlich sein soll, dann ist das Gesetz eine verdammte Sauerei!« Pearce lieferte nur einsilbige Antworten, während er seinem Team den Befehl erteilte, mit der Durchsuchung anzufangen. Während sie sich in der Werkstatt verteilten, hörte Pearce irgendwo hinter sich Sawyer murmeln:
»Das lasse ich mir nicht so ohne weiteres bieten, wissen Sie? Ich habe Aufträge zu erledigen. Am Montagmorgen kommen Leute her, die ihre reparierten Wagen abholen wollen! Was soll ich denen sagen? Sie schneien einfach unangekündigt hier herein und stellen alles auf den Kopf! Ich habe meine Rechte, und ich weiß, was Recht ist, glauben Sie mir! Ich werde dafür sorgen, dass ich mein Recht bekomme! Niemand hat das Recht, mir so viel Scherereien zu verursachen! Niemand, und das lasse ich Ihnen verdammt nochmal nicht durchgehen, glauben Sie mir, weder Ihnen noch sonst irgendjemandem!« Pearce wandte sich unvermittelt zu seinem Ankläger um.
»Nun, da Sie scheinbar eine ganze Menge zu erzählen haben, macht es Ihnen sicherlich nichts aus, mir ein paar Fragen zu beantworten, nicht wahr?«
»Ich habe Ihnen überhaupt nichts zu sagen, Ihnen und diesen Mistkerlen!«
»Soweit wir wissen, wollten Sie dieses Stück Land dort hinten von Mr Penhallow, dem Besitzer von Tudor Lodge erwerben, ist dies zutreffend?«
»Und wenn schon!«, entgegnete Sawyer mürrisch.
»Das ist kein Geheimnis.«
»Allerdings war es auch nicht gerade öffentlich bekannt, nicht wahr? Irene Flack beispielsweise, Ihre unmittelbare Nachbarin und die Haushälterin der Penhallows, hat nichts davon gewusst.«
»Ich laufe nicht durch die Gegend und schwatze über meine Geschäfte!«, gab Sawyer zurück.
»Was nicht bedeutet, dass ich etwas zu verbergen hätte! Wenn Irene mich früher gefragt hätte, würde ich es ihr gesagt haben. Ich dachte, sie wüsste es, weil sie ihren kleinen Wagen immer dort geparkt hat. Ich dachte, Mr Penhallow hätte es ihr erlaubt. Wenn sie geglaubt hat, dass das Grundstück mir gehört, dann war es doch wohl ihr Fehler, oder nicht?« Pearce antwortete nicht, sondern bohrte beharrlich weiter.
»Aber Mr Penhallow hat sich geweigert, Ihnen das Grundstück zu verkaufen, ist dies zutreffend?« Sawyer stockte und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, während er den Fragesteller misstrauisch anstarrte.
»Vielleicht hätte er es noch getan. Unsere Gespräche waren noch nicht abgeschlossen. Wir standen noch in Verhandlungen.«
»Sein Sohn scheint anderer Meinung zu sein. Er sagt, sein Vater hätte sich geweigert, und damit wäre die Sache erledigt gewesen.«
»Dann hat der junge Bursche etwas falsch verstanden, wie? Mir scheint«, fügte Sawyer sarkastisch hinzu,
»dass eine Menge Leute eine Menge Sachen falsch verstehen in letzter Zeit, einschließlich der Polizei – sonst wären Sie nicht hier und würden mich mit albernen Fragen schikanieren, während Ihre Leute meine Werkstatt in ein einziges Durcheinander verwandeln!« Pearce wandte sich zu seinen Constables um, die überall in der Werkstatt zugange waren. Falls die Suche ergebnislos blieb, würden sie einigermaßen dumm dastehen.
Kate Drago öffnete die Augen und sah ihr Schlafzimmer zum ersten Mal im vollen Tageslicht. Bis sie am Abend zuvor aus dem Crown ausgezogen und in Tudor Lodge angekommen war, hatte bereits die Dunkelheit eingesetzt, und überall im Haus hatte das Licht gebrannt.
Jetzt setzte sie sich in ihrem Bett auf und sah sich aufgeregt in ihrer neuen Umgebung um. Das Zimmer war vorwiegend in Cremefarben gehalten, dazwischen ein paar Tupfer aus Vergissmeinnichtblau. Cremefarbene Wände, cremefarbene Vorhänge mit winzigen blauen Blumen, ein dazu passender Bettbezug und ein blauer Teppich. Es war die Sorte von Haus, in der einem Gast eine Auswahl an Lektüre angeboten wurde. Auf dem Nachttisch lagen verschiedene Taschenbücher, zwei davon Krimis. Niemand hatte daran gedacht, sie zu entfernen.
Kate schwang die Beine aus dem Bett und tappte zum Fenster. Es zeigte zur Seite des Hauses. Sie sah Rasen, Bäume, Büsche, eine Trockenmauer, weitere Bäume und dazwischen die Dächer der Reihencottages, an denen sie vorbeigekommen war. Sawyers Tankstelle und die Einsatzwagen der Polizei sah sie nicht.
»Ich habe es geschafft!«, flüsterte sie zu sich.
»Ich bin hier!« Der Sieg schmeckte bitter; die Bitterkeit rührte von der Abwesenheit der einen Person her, die hätte hier sein sollen, um dies zu sehen. Er hatte sie betrogen, ganz zum Schluss noch einmal betrogen. Er hatte sie betrogen, indem er Zuflucht im Tod gesucht hatte. Er war noch immer da. Sie wusste, dass er da war. Sie hatte seine Gegenwart gespürt, als sie am Abend zuvor die knarrende Treppe hinaufgestiegen war. Trotzdem, es war nicht dasselbe. Er hätte sie in dieses Haus führen und sie den anderen vorstellen sollen, und er hätte sie nicht in die Lage versetzen dürfen, wie ein Flüchtling herzukommen.
Nicht einmal in ihrer ursprünglichen Kleidung, Herrgott im Himmel, in welcher sie ihre sorgfältig geplante Reise nach Bamford angetreten hatte. Die Sachen waren noch bei der Polizei. Sie hatte in die Stadt gehen und neue Sachen kaufen müssen, hatte sie mit ihrer Kreditkarte bezahlt, obwohl sie nicht die Mittel besaß, die Rechnung zu begleichen, wenn sie schließlich kam. Doch das hier, dachte sie bitter, das war das Haus eines reichen Mannes.
Kate wandte sich vom Fenster ab und ging zu ihrem Umhängebeutel, der in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden lag. Sie kramte darin herum und nahm ein ledernes Etui hervor, in dem zwei Fotografien Platz fanden. Es war ein altes Etui, und das einst polierte Leder war rissig und stumpf. Sie hatte es in einer Schublade im heimatlichen Cottage gefunden, als sie das Haus geräumt hatte.
Sie klappte das Etui auf und betrachtete die beiden Fotos darin. Eines zeigte einen jüngeren Andrew Penhallow, schlanker und gut aussehend. Das andere zeigte eine Frau mit hübschen, wenn auch schwachen Gesichtszügen. Sie besaß langes blondes Haar, und an ihren Ohren baumelten Ringe. Auf dem Bild war sie um die dreißig Jahre alt. Sie lächelte nicht, sondern blickte ernst drein, sehr ernst, vielleicht sogar ein wenig traurig, als wüsste sie bereits, welche Krankheit sich in ihr ausbreitete.
Kate strich das Bild mit dem Zeigefinger glatt.
»Alles kommt in Ordnung, Mum«, sagte sie leise.
»Du wirst sehen, alles kommt in Ordnung. Ich werde bekommen, was uns zusteht, uns beiden. Freddie sagt, ich hätte einen Anspruch auf einen Teil des Erbes.« Sie klappte das Etui zu.
»So einfach werden sie mich nicht los. Ich bin hergekommen, um mir zu holen, was mir gehört.« Irene Flack hatte von ihrem Schlafzimmerfenster aus gesehen, wie die Polizeiwagen auf den Tankstellenhof von Harry Sawyer gekommen waren. Verwirrt und beunruhigt war sie im Morgenmantel nach unten gegangen und hatte sich ihr Frühstück zubereitet, Toast, Porridge, frischen Tee. Die Aktivitäten hatten sie für eine Weile von den Vorgängen auf der Tankstelle abgelenkt, und sie überlegte, was wohl in diesem Augenblick auf Tudor Lodge vorgehen mochte. Wer würde an diesem Morgen die einfachen Tätigkeiten erledigen? Sie fragte sich, ob sie sich vielleicht rasch anziehen und rübergehen sollte, um für alle das Frühstück zu machen, obwohl sie normalerweise am Wochenende nicht arbeitete und bereits ihren Samstag geopfert hatte. Doch es war wenig sinnvoll, sich an Pläne zu halten, wenn eine außergewöhnliche Situation eintrat – und das war in Tudor Lodge ohne jeden Zweifel der Fall. Jedenfalls nach Irenes unumstößlicher Meinung. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht acht, und noch würde niemand mit den Vorbereitungen für das Frühstück angefangen haben.
Sie traf eine Entscheidung. Irene schaltete den Gasherd aus, rannte nach oben und schlüpfte rasch in willkürlich ausgewählte Kleidungsstücke. Als sie aus der Haustür trat, blickte sie zur Tankstelle hinter dem freien Grundstück. Dort stand Harry zusammen mit dem Mädchen, das bei ihm als Kassiererin arbeitete. Sie waren in eine Unterhaltung vertieft. Dann plötzlich wandte sich die junge Frau ab, stieg in ihren Wagen, setzte zurück und fuhr wieder davon. Es sah ganz danach aus, als hätte Harry beschlossen, die Tankstelle an diesem Morgen nicht zu öffnen. Schweren Herzens, weil es schien, als würde diese Geschichte sie alle mit einbeziehen und als fänden sie keinen Frieden, eilte sie an den anderen Cottages vorbei in Richtung Tudor Lodge. Plötzlich öffnete sich die Tür des letzten Cottages, und die alte Mrs Joss streckte den Kopf heraus.
»Guten Morgen!«, grüßte Irene hastig und wollte weitergehen, bevor die alte Vettel eine Gelegenheit fand, sie aufzuhalten. Doch Mrs Joss packte sie am Ärmel.
»Was ist denn passiert?«, krächzte sie neugierig mit schweren goldenen Ringen, die an ihren verwelkten Ohrläppchen baumelten.
»Was ist bei Harry Sawyers Tankstelle los? Alles ist voll Polizei! Ich hab sie kommen sehen!«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mrs Flack und löste sich entschieden aus dem Griff der Alten.
»Sie gehen rüber zum Haus?«, fragte Mrs Joss unbeeindruckt. Sie meinte Tudor Lodge.
»Ich dachte, Sie arbeiten sonntags nicht.«
»Im Augenblick brauchen sie jede Hilfe, die sie kriegen können«, fühlte sich Irene zu einer Antwort genötigt. Mrs Joss nickte.
»Dieses junge Ding ist da, nicht wahr? Die kleine Madam, eh? Sie führt nichts Gutes im Schilde, das kann ich spüren.« Irene starrte die Alte an.
»Woher um alles in der Welt wissen Sie das?«
»Mein Enkel Lemuel.« Mrs Joss strahlte vor Vergnügen, weil es ihr gelungen war, Mrs Flack eine Überraschung zu bereiten.
»Er arbeitet in der Bar vom Crown Hotel. Das junge Ding hat dort gewohnt, ein schickes Ding, wie Lemuel erzählt hat, scharf wie ein Rasiermesser. Nun ja, gestern Abend ist es ausgezogen und hat eine Nachricht hinterlassen. Falls jemand die junge Madam zu sprechen wünsche, sie wohne jetzt in Tudor Lodge. Mehr noch, Mrs Penhallow, sie hat den jungen Master Penhallow zum Crown geschickt, damit er die Rechnung bezahlt!« Mrs Joss blickte Mrs Flack an und beugte sich vertraulich vor.
»Ich nenne das nicht richtig«, sagte sie.
»Ich nenne das eine krumme Tour. Eine ganz krumme Tour ist das, wenn Sie mich fragen.« Mrs Flack konnte nicht umhin, sie seufzte zustimmend.
»Ich sehe das wie Sie, aber Mrs Penhallow möchte es eben so.« Die alte Frau kicherte leise, und Irene lief eine Gänsehaut über den Rücken. Was sie betraf, so war sie überzeugt, dass Mrs Joss zu fast allem fähig war. Vor vielen Jahren, erzählten sich die Leute in der Stadt, lange vor der gegenwärtigen Gesetzgebung, waren junge Frauen, die in
»Schwierigkeiten« steckten, zur Mrs Joss gekommen. Die alte Vettel war noch heute geschickt, was den Umgang mit Heilkräutern und Arzneien anging. Noch heute kamen ältere Bamforder von Zeit zu Zeit hierher, um einen
»Sirup« oder einen
»Blutreiniger« bei ihr zu kaufen.
»Lemuel meint, der junge Master Penhallow hätte ausgesehen, als würde er gleich in die Luft gehen, deswegen schätze ich, er will das junge Ding auch nicht im Haus haben.« Mrs Joss grinste böse. Das ging jetzt wirklich zu weit.
»Ich wage zu behaupten«, entgegnete Mrs Flack frostig,
»dass der junge Luke durchaus allen Grund hat, wütend zu sein, nachdem das gesamte Personal des Crown um ihn herumgestanden und ihn angegafft hat. Will mir scheinen, als gäbe es im Crown nicht genug zu arbeiten.« Lemuels Großmutter warf verächtlich den Kopf zurück.
»Mein Enkel Lemuel ist ein guter Arbeiter! Sie bauen auf seine Arbeit, drüben im Crown.«
»Tun sie das, ja?«, entgegnete Mrs Flack streitlustig.
»Na ja, jedenfalls scheint man ihn ja gut zu bezahlen, weil er ständig in neuen Sachen rumläuft, und dann hat er dieses lärmende Motorrad und dieses Radio, das er ständig spazieren trägt und alle mit seinem Lärm belästigt! Knapp an Geld kann er nicht sein, euer Lemuel. Und ich dachte immer, in einem Hotel, da wird man nicht so gut bezahlt. Da sieht man es mal wieder!« Sie marschierte davon, während Mrs Joss hinter ihr Verwünschungen murmelte. Als sie die Küche von Tudor Lodge betrat, fand sie den jungen Luke vor, der sorgfältig Speckstreifen in einer Pfanne auslegte.
»Lass mich das machen!«, sagte sie entschieden und schob ihn beiseite.
»Was machst du hier, Irene?«, fragte er überrascht.
»Du bist doch gestern schon extra hergekommen, und es ist wirklich nicht fair, wenn du einen weiteren freien Tag opferst! Ich schaffe das auch alleine!«
»Ich behaupte ja nicht, dass du das nicht kannst«, entgegnete Mrs Flack.
»Aber du hast bestimmt andere Dinge im Kopf, und das ist auch richtig so. Ihr habt einen Gast im Haus. Wie die Dinge stehen, kann man nicht erwarten, dass deine Mutter sich um die Mahlzeiten und alles kümmert, genauso wenig wie du. Du solltest mehr an dich und deine Mutter denken. Überlass das hier ruhig mir.« Noch während sie redete, knöpfte sie mit geschickten Fingern ihre Schürze zu.
»Danke, Irene«, sagte Luke und herzte sie.
»Nun«, sagte Irene erfreut,
»das ist nur recht und billig. Diese junge Frau – ich nehme an, sie erwartet ein anständiges Frühstück? Sie ist nicht eine von diesen, die nur Diätkram essen?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Luke missmutig.
»Nicht, nachdem ich gesehen habe, was sie gestern Abend alles in sich hineingestopft hat.«
»Gesunder Appetit schadet nicht«, erklärte Mrs Flack, die selbst jemandem wie Kate Drago ein Recht darauf einräumte.
»Und du solltest ruhig mehr essen, ein großer Bursche wie du! Was deine Mutter angeht, sie isst so viel, dass selbst ein Spatz hungern würde! Wenn du mir helfen möchtest, dann gehst du jetzt besser und deckst im Esszimmer den Frühstückstisch. Dort ist mehr Platz als hier in der Küche, wo ich herumfuhrwerke und mit Töpfen und Pfannen klappere. Wenn du deine Mutter siehst, frag sie doch, was sie zum Mittagessen möchte.« Luke wanderte ins Esszimmer und begann den Tisch zu decken. Als er das Besteck neben die Teller legte, hörte er ein Geräusch an der Tür, und als er aufsah, stand Kate dort.
»Guten Morgen«, sagte sie. Ihre offensichtliche Ungezwungenheit schürte seinen inneren Groll. Sie muss eine sprichwörtliche Elefantenhaut haben, dachte er. Spürt sie denn nicht den leisesten Hauch von Verlegenheit? Und doch, was Verlegenheit anging, so war er selbst es, der sie spürte. Die Ungerechtigkeit von alledem machte ihn wütend, doch er konnte es nicht ändern. Sie beobachtete ihn, während er Messer und Löffel auslegte, und es erinnerte ihn an einen Vorfall am vergangenen Abend. Er hatte sie im Hotel abgeholt, die Rechnung beglichen und war mit ihr in eisernem Schweigen nach Tudor Lodge gefahren. Seine Mutter hatte sie willkommen geheißen, doch sie hatte es übertrieben, und dann, als ihr bewusst geworden war, was sie tat, war sie in Elend und Schweigen gefallen. Er hatte sie gedrängt, nach oben zu gehen und sich hinzulegen. Er würde das Abendessen vorbereiten, kein Problem. Seine Mutter hatte ihn dankbar angesehen und war nach oben geeilt. Das Mädchen (selbstverständlich kannte er ihren Namen, doch er beharrte darauf, sie
»das Mädchen« zu nennen, denn er sträubte sich zutiefst, in ihr eine Verwandte zu sehen) war ihm in die Küche gefolgt. Dort hatte er angekündigt, dass er Rühreier zum Abendbrot machen würde und ihr Angebot ausgeschlagen, ihm dabei zu helfen. Sie hatte in der Küche herumgestanden und ihm bei der Arbeit zugesehen (damit ihm keine andere Wahl blieb, als sie zur Kenntnis zu nehmen, wie er glaubte), und schließlich hatte er mürrisch vorgeschlagen, dass sie den Tisch decken sollte. Er hatte ihr nicht verraten, wo sie Geschirr und Besteck finden konnte, und eine fremde Küche konnte ein verwirrender Ort sein. Das Mädchen hatte willkürlich Schränke und Schubladen geöffnet auf der Suche nach Tellern, Salz und Pfeffer, Tassen und Besteck. Er hatte ihre Schwierigkeiten bemerkt und sich dennoch beharrlich geweigert, ihr zu verraten, wo sie was finden konnte. Es war ein kleinlicher Akt der Böswilligkeit gewesen, und das war der Grund, aus dem er nun Verlegenheit in sich spürte. Doch sie, gleichermaßen starrköpfig, hatte sich geweigert, ihn zu fragen. Was letzten Endes dazu geführt hatte, dass er sich fragte, ob Starrköpfigkeit in der Familie lag – um sich sogleich wütend zu schelten, dass sie nicht zur Familie gehörte. Irgendwann hatte sie alles zusammengehabt, was zum Decken des Tisches erforderlich war, ohne ihn fragen zu müssen. Und so hatte sie in gewisser Weise die lautlose Konfrontation gewonnen – was ihn letztendlich noch wütender gemacht hatte. Seine Mutter war wieder aufgetaucht. Sie hatten schweigend zu Abend gegessen, nachdem Carla angeboten hatte, eine Flasche Wein dazu zu öffnen, doch weder Luke noch das Mädchen hatten eingewilligt. Luke, weil er entschlossen war, nichts zu unternehmen, das irgendwie nach Feiern aussah – in Wirklichkeit jedoch war ihm übel gewesen. Gütiger Gott, hatte das Mädchen nicht hier bei seinem Vater in der Küche gesessen? Jedenfalls hatte die Polizei das gesagt. Vielleicht sogar, soweit er wusste, hier an diesem Tisch? Und jetzt aß sie die gleichen Rühreier und Pilze und Tomaten, die an jenem Abend bereits in den Vorratsschränken und im Kühlschrank gelegen hatten! Während Lukes Mutter wie üblich nur an ihrem Essen pickte, war Luke fast daran erstickt. Er nahm an, dass sie im Crown Hotel nicht viel gegessen hatte, weil die Küche bescheiden war, wie jedermann wusste, doch wenn sie auch nur einen Hauch von Feingefühl besaß, dann …
»Das Frühstück ist bald fertig«, sagte er nun und zwang sich dazu, sie anzusehen. Seine Lippen bewegten sich kaum, als wären sie unwillig zu arbeiten und Worte zu formen.
»Irene ist extra gekommen, um uns zu helfen.« Kate trat zum Tisch und legte die Hände auf eine Stuhllehne.
»Ich möchte mit dir reden«, sagte sie mit ihrer klaren Stimme.
»Tu dir keinen Zwang an.« Seine Stimmung sank noch weiter, falls das überhaupt möglich war. Mit ihr reden war das Letzte auf der Welt, was er wollte. Er wusste nicht, ob er überhaupt dazu imstande war. Er wandte den Blick ab, doch aus den Augenwinkeln konnte er noch immer ihre Hände sehen, die auf der Holzlehne ruhten. Sie sahen klein und empfindlich aus. Aussehen kann täuschen, hieß es, und er fragte sich, wie stark diese Hände wirklich waren. Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er sich vorstellte, wie sie eine Waffe gepackt hielten, hoch über den Kopf erhoben … Er wandte ihr den Rücken zu, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie nahm seine Bewegung als deutliche Ablehnung, und das kratzte an ihrem Panzer aus augenscheinlicher Ungezwungenheit.
»Du könntest mich wenigstens dabei ansehen!«, platzte sie heraus. Luke drehte sich langsam zu ihr um und bemerkte, dass ihr Gesicht unter der blonden Lockenpracht weiß war vor Zorn. In diesem Augenblick brach sich sein eigener Ärger Bahn, den er bisher so sorgfältig unter Kontrolle gehalten hatte.
»Hör zu!«, krächzte er.
»Ich hab dich nicht hierher eingeladen! Das hat meine Mutter getan! Ich spiele mit, weil es ihre Entscheidung ist und weil ich sie unterstütze. Ich weiß nicht, was du willst. Es ist mir verdammt nochmal egal! Was auch immer es ist, es kann warten. Meiner Mutter geht es nicht gut. Ich werde nicht zulassen, dass du sie belästigst oder ihr Kummer machst, hast du das kapiert? Und wenn du wagen solltest, dich bei ihr einzuschleimen und dir ihre Sympathien zu erschleichen, dann werde ich dem ein Ende bereiten!« Sehr leise, mit betonten Abständen zwischen den Worten, entgegnete sie:
»Ich – bin – deine – Schwester!« Und weniger erregt fügte sie hinzu:
»Ob dir das nun gefällt oder nicht, aber daran lässt sich nichts ändern. Du wirst dich daran gewöhnen müssen. Du und die Polizei, ihr alle! Wenn du glaubst, dass ich wieder von hier weggehe, vergiss es! Ich werde nicht gehen. Ich werde bleiben.« Luke ließ eine Gabel fallen und bückte sich, um sie aufzuheben.
»Ist das der Grund, warum du auf der Party nach unserem Spiel aufgetaucht bist? Um mir diesen Unsinn von einer angeblichen Verwandtschaft aufzutischen? Wer hat dich überhaupt reingelassen? Oder bist du einfach über das Tor geklettert?« Sie errötete.
»Nein! Ich wurde eingeladen! Hör zu, ich gebe zu, dass ich ihn überredet habe. Ich war dort, um mir das Spiel anzusehen, und dann kam ich mit diesem Typen an der Touchline ins Gespräch. Er meinte, er würde hinterher auf die Party gehen und ob ich nicht Lust hätte mitzukommen. Natürlich hatte ich Lust. Ich wollte dich sehen. Ich dachte, wenn wir miteinander ins Gespräch kämen, wäre es hinterher einfacher, mich dir und deiner Mutter vorzustellen.«
»Meine Mutter war an diesem Tag auch beim Spiel!«, sagte er wütend.
»Hattest du vor, auch mit ihr zu reden? Wolltest du die eine oder andere hinterhältige Bemerkung machen? Zusehen, wie ihre Welt zusammenbricht, draußen, vor allen Leuten, wo sie sich nicht verstecken konnte?« Sie schob den Unterkiefer vor, und ihr kleines wütendes Gesicht war zu einer eisigen Maske erstarrt.
»Ich wusste nicht, dass deine Mutter da war. Selbst wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nicht zu ihr gegangen! Ich wollte dich kennen lernen, nicht deine Mutter! Es wurde Zeit, dass wir uns kennen lernten.« Die letzten Worte schlüpften über ihre Lippen, als hätte sie sie schon viele Male zu sich selbst gesagt. Sie kamen in einem eigenartig starrköpfigen, singenden Tonfall. Das war ihr Mantra. Das war ihre Entschuldigung, oder wie man es auch immer nennen mochte, ihre Antwort auf jegliche Kritik. Er fragte sich kurz, ob sie ganz richtig im Kopf war.
»Und das hast du Dad gesagt, als du hier ums Haus geschlichen kamst?«, entgegnete er.
»Ich bin nicht geschlichen!« Ihre Augen blitzten.
»Ich habe versucht … Er hätte zugestimmt, wenn nicht … wenn das nicht passiert wäre.«
»Wir verlangen Beweise, das wirst du wohl sicher einsehen«, sagte Luke gefühllos.
»Beweise dafür, dass du bist, wofür du dich ausgibst.« Sie hatte sich während der letzten Sekunden immer mehr verspannt. Jetzt entspannte sie sich wieder.
»Das ist kein Problem. Wenn ihr einen DNS-Test möchtet und was weiß ich nicht noch alles, ich bin bereit, mich diesen Tests zu unterziehen. Abgesehen davon gibt es eine Menge Leute, die sie kannten, die von ihrer Beziehung wussten. Freddie Green, mein Anwalt, hat gesagt, es würde nicht die geringsten Schwierigkeiten bereiten, meine Blutsverwandtschaft nachzuweisen.«
»Du kannst von mir aus nachweisen, was du willst!« Lukes Stimme zitterte vor Wut und Empörung.
»Dad hat dich nie anerkannt, und das werde ich ebenfalls nicht, niemals! Du hast nichts mit mir gemeinsam oder mit dieser Familie. Du gehörst nicht dazu! Sobald die Polizei sagt, dass du die Stadt verlassen darfst, kannst du verschwinden. Und du wirst verschwinden! Wenn nicht, dann werde ich dich höchstpersönlich aus diesem Haus werfen, ganz egal, was meine Mutter dazu sagt!« Er sah ihr schockiertes Gesicht und erschrak über seine eigene Vehemenz. Hatte er das gesagt? Das konnte unmöglich aus seinem Mund gekommen sein, oder? So brutal, so melodramatisch, und mehr noch, so vollkommen außer Kontrolle? Doch es war die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, wie es vor Gericht so schön heißt. Er begegnete ihrem Blick aus den grauen, vor Bestürzung weit aufgerissenen Augen und sagte entschlossen:
»Und das meine ich ernst!«
KAPITEL 13
AM MONTAG, als Meredith aufstand und aus dem Fenster blickte, sah es aus, als hätte jemand oben am Himmel einen Vorhang zurückgezogen. Sie beugte sich vor und atmete die frische klare Luft in tiefen Zügen ein. Kein Zweifel möglich – nach einem Monat des Stockens und Zauderns war endlich der Frühling angebrochen. Sie ging in ihrem Morgenmantel nach hinten in den kleinen Hof und drehte das Gesicht in die Sonne. Die Wärme und die milde Brise signalisierten das Erwachen der Welt aus ihrem Winterschlaf. Die Vögel jagten durch die Luft, als wäre ihnen eben erst bewusst geworden, dass Nestbau nun ganz oben auf der Liste der wichtigen Tätigkeiten stand. An den Sträuchern zeigten sich Knospen und neue Triebe, wo sie hätte schwören können, dass am Vortag noch keine zu sehen gewesen waren. Sie hantierte in ihrer Küche und machte sich Kaffee und Toast, während sie gut gelaunt sinnierte, dass ihr Wochenende letzten Endes doch nicht so verloren gewesen war, wie es anfänglich ausgesehen hatte. Bamford hinter sich zu lassen, selbst wenn es nur ein paar Meilen die Straße hinunter bis zum Springwood Hall Hotel gewesen waren, hatte sich als brillante Idee von Seiten Alans herausgestellt. Weg aus ihrer gewohnten Umgebung waren beide imstande gewesen, ein wenig auszuspannen. Unglücklicherweise sollte Merediths Hochstimmung nicht anhalten. Der Fluch des Montags traf sie, sobald sie den Bamforder Bahnhof erreichte. Ihr Zug hatte Verspätung, und als er endlich einlief, war er gedrängt voll. Nicht nur, dass die üblichen Passagiere darin waren, die normalerweise in ihm saßen, sondern zusätzlich Leute, die ein wenig zu früh für den nächsten Zug an ihrem Bahnhof angekommen waren und nun ebenfalls mitfuhren. Und als wäre das nicht genug, fuhren auch noch Pendler mit, die normalerweise einen Zug früher genommen hätten, welcher jedoch aus unerfindlichen Gründen ganz ausgefallen war. Als Meredith in London ausstieg, wurde es nicht besser. Ein
»Zwischenfall« hatte die U-Bahn-Strecke blockiert, auf der sie gewöhnlich vom Bahnhof zum Auswärtigen Amt fuhr. Die Busse kamen nur langsam voran und blieben immer wieder im starken Verkehr stecken. Letztendlich erreichte Meredith ihr Büro, doch mit einer Verspätung von fast einer Stunde. Sie war erhitzt, zerzaust und aufgebracht. Gerald, mit dem sie ihr zugegebenermaßen geräumiges Büro teilte, blickte auf und begrüßte sie mit einem Becher Kaffee in der Hand.
»Hallo Sherlock. Wie ich sehe, konntest du es wieder mal nicht lassen.«
»Was denn?«, entgegnete sie und knallte ihren Aktenkoffer auf den Schreibtisch. Gerald angelte seine Boulevardzeitung aus der Schublade und hielt sie Meredith hin, damit sie die Titelzeile lesen konnte.
ERMORDETER EURO-VIP FÜHRT HEIMLICHES DOPPELLEBEN
»Was um alles in der Welt ist denn ein ›Euro-VIP‹?«, fragte Meredith, während sie überlegte, ob eine Schlagzeile, die aussah wie eine Sehtafel, als guter Journalismus betrachtet werden konnte. Es war nicht, als hätte sie sich den Inhalt der Story nicht denken können, doch die Art und Weise der Präsentation ärgerten sie. Genau das war es, was Carla gefürchtet hatte, und mit gutem Grund.
»Dieser Typ, der erschlagen wurde, in der Gegend, wo du wohnst. Immer, wenn du da bist, passieren solche Dinge, ist dir das schon mal aufgefallen?« Gerald klang melancholisch.
»In meiner Gegend passiert nie was. Ein paar alte Damen haben sich am Sonntagmorgen wegen eines Pudels gestritten, der auf den Bürgersteig gemacht hat. Das war schon das Maximum an Aufregung. Kanntest du diesen Euro-Typen?«
»Nur entfernt. Ich kenne seine Frau besser, aber auch nur ein wenig!«, fügte sie hastig hinzu, nachdem sie das Leuchten in Geralds Augen bemerkte.
Doch es war bereits zu spät. Er beugte sich eifrig vor.
»Schieß los, Meredith. Komm, erzähl mir die schmutzigen Details, ja?«
»Es gibt keine … Ich weiß jedenfalls von nichts. Gerald, du hast definitiv den falschen Job! Warum bist du nicht Journalist geworden? Dann hättest du für eines dieser Schmierblätter arbeiten können, die du den ganzen Tag lang liest, und du wärst immer mit bei den Ersten am Tatort!«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, erwiderte er ernst.
»Ich wäre bestimmt gut gewesen, du hast Recht. Ich hätte wirklich Journalist werden sollen, aber meine Mutter hat mich bedrängt, an eine sichere Zukunft zu denken!« Er sah Meredith zu, wie sie hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm, und als sie weiterhin nicht mit Einzelheiten auspackte, schlüpfrigen oder anderen, wechselte er die Taktik.
»Hattest wohl eine miese Anreise, wie? Pech, so was. Warte, ich hol dir einen Kaffee, einverstanden?«
»Ist das dein Äquivalent eines offenen Scheckbuchs? Gerry, ich weiß wirklich nichts über diese Sache!« Sie streckte die Hand nach der Zeitung aus.
»Lass mich mal lesen, was sie schreiben.« Er reichte ihr das Blatt. Die Zeitung war irgendwie in den Besitz der grundlegenden Fakten geraten. Sie hielten sich an Carlas Fernsehkarriere fest. Sie wurde als
»untröstliche Witwe« beschrieben, und dem Reporter zufolge hatte sie sich
»hinter den Mauern des luxuriösen Herrenhauses der Familie verkrochen«. Während Meredith las, ging Gerald Kaffee und einen Penguin-Schokoladenbiskuit holen. Er stellte beides vor Meredith ab wie ein Laubenvogel, der sein zukünftiges Weibchen zu locken versucht.
»Es ist kein luxuriöses Herrenhaus«, sagte Meredith, indem sie die Zeitung faltete und ihrem hoffnungsvollen Besitzer hinstreckte.
»Dahingehend kann ich dir weiterhelfen. Es ist ein sehr altes, sehr schönes und sehr gemütliches Haus. Aber es ist nichts Außergewöhnliches, womit ich sagen will, dass es kein Zufluchtsort für einen Millionär ist. Tut mir Leid, aber mehr weiß ich auch nicht, und mir ist durchaus bewusst, dass meine Informationen keinen Schokoladenbiskuit wert sind.«
»Du darfst ihn trotzdem behalten«, sagte er im Tonfall eines Märchenonkels, der armen verirrten Kindern vergiftete Süßigkeiten anbietet. Er hatte eine ganze Schublade voll mit diesem Zeugs. Gerald begann regelmäßig Diäten, doch er hielt nie länger als eine Woche durch. Seine Mutter, die ihn abgöttisch liebte und gleichzeitig sehr besitzergreifend war, versicherte ihm unablässig, was für ein stattlicher Mann er doch sei, dank ihrer Ratschläge, gottlob.
»Dann hast du diese junge Frau nicht gesehen? Die aus dem Nichts aufgetaucht ist und behauptet, seine Tochter zu sein? Wie es heißt, soll sie ja umwerfend aussehen.« Es war ihr Pech, überlegte Meredith, dass sie von Natur aus ehrlich war. Sie war eine schlechte Lügnerin, und bevor ihr eine Antwort einfiel, die prinzipiell nicht gelogen war, aber doch nichts verriet, hatte Gerald ihren Gesichtsausdruck richtig interpretiert.
»Aha!«, sagte er, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Meredith.
»Dann schieß mal los, komm, erzähl es mir.« Die Angelegenheit lastete Meredith noch immer so sehr auf der Seele, dass die Versuchung groß war, Gerald davon zu erzählen, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Sie gab der Versuchung nach, nicht zuletzt weil sie wusste, dass Gerald trotz seiner Neugier verschwiegen war. Er liebte es, den neuesten Gerüchten zu lauschen, doch er gab sie nicht weiter. Das Bewusstsein, mehr zu wissen als andere, dämpfte die tief in ihm verwurzelten Gefühle von Unsicherheit, an denen nicht einmal die Aussicht auf eine stattliche Pension am Ende seines Arbeitslebens etwas hatte ändern können.
»Wenn ich dir etwas verrate, Gerald«, begann sie,
»wirst du es für dich behalten?« Gerald fuhr sich mit dem gestreckten Daumen über die Kehle.
»Ich habe sie am Donnerstagabend mitgenommen. Ich war auf dem Heimweg von diesem unsäglichen Lehrgang …«
»Überspring das mit dem Lehrgang«, unterbrach er sie, vorübergehend abgelenkt.
»Nimm’s nicht persönlich, aber das kannst du mir später alles noch erzählen. Sprich weiter.«
»Ich wusste nicht, wer sie war. Es war spät und schon fast dunkel, und sie marschierte allein über die einsame Straße, eine hübsche junge Frau. Also hielt ich an und erbot mich, sie mitzunehmen.«
»Warum bloß treffe ich nie auf hübsche junge Frauen, die spät am Abend allein über Landstraßen wandern?«, seufzte Gerald.
»Weil du nicht auf dem Land wohnst, deshalb, Gerald. Du wohnst in Golders Green. Jedenfalls, sie hat mich gebeten, sie vor Tudor Lodge abzusetzen, und das tat ich dann auch. Es war spät, ich war auf dem Heimweg und hoffte, den Abend gemeinsam mit Alan zu verbringen. Ich bin nicht stehen geblieben und habe gewartet, was sie als Nächstes tut. Allerdings gestehe ich, dass ich ein ungutes Gefühl hatte, und das nicht erst im Nachhinein, glaub mir. Das habe ich auch schon Alan erzählt, als wir uns kurze Zeit später getroffen haben.«
»Ah, der liebeskranke Polizist. Was hält er denn von der Geschichte?« Meredith setzte sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Okay, Gerry, das war’s. Ich werde dir kein Wort mehr verraten. Und du kannst dir deinen Schokoladenbiskuit meinetwegen sonst wohin stecken!« Gerald hob mahnend den Zeigefinger, doch er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. Er wirkte sehr zufrieden mit sich und der Welt. Pearce sah alles andere als zufrieden aus, als er sich am gleichen Morgen bei Markby zum Dienst meldete. Ihm entging allerdings nicht, dass der Superintendent außerordentlich gut gelaunt wirkte. Kein Wunder, oder?, grollte eine innere Stimme wenig mitfühlend.
»Wir haben nichts gefunden«, berichtete er zerknirscht.
»Wir haben mehr als dreißig Werkzeuge und andere Gegenstände beschlagnahmt und zur Spurensicherung gebracht. Die Jungs von der Forensik sind nicht allzu erfreut darüber, aber das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen. Sie haben mehr oder weniger deutlich gesagt, dass wir lange auf die Ergebnisse warten können. Es könnte Wochen dauern! Offen gestanden, keines von diesen Werkzeugen sah meiner Meinung nach aus, als könnte es diese eigenartigen Wunden verursacht haben. Auf der anderen Seite müssten wir jedes Stück Metall in dieser Werkstatt untersuchen, um ganz sicher zu sein, und das würde Hunderte von Gegenständen bedeuten! Es ist eine Reparaturwerkstatt! Außerdem, falls er es war, hat er die Waffe inzwischen ganz bestimmt längst verschwinden lassen, meinen Sie nicht? Ich habe das Gebäude versiegeln lassen, und Sawyer ist halb verrückt vor Wut!« Pearce dachte über den Einsatz bei Sawyers Tankstelle nach.
»Eigenartiger Typ, dieser Harry Sawyer. Als wir zuerst aufgetaucht sind, ließ es ihn scheinbar völlig kalt. Er runzelte nicht mal die Stirn wegen uns. Dann, als ihm nach und nach klar wurde, was es zu bedeuten hatte – dass er an diesem Tag seine eigene Werkstatt nicht betreten durfte und nicht mal seinen Bungalow aufräumen, bevor wir nicht fertig waren, änderte sich sein Tonfall. Er tobte und redete davon, uns einen Anwalt an den Hals zu hetzen und was nicht noch alles. Er meinte, er würde seine Rechte kennen, und niemand würde einfach so auf seinem Gelände herumstiefeln und ungeschoren davonkommen.«
»Haben Sie ihn nach seiner Meinungsverschiedenheit mit Penhallow befragt?« Markby war nicht überrascht, dass die Suche nach einem Gegenstand, der Andrew Penhallows Kopfwunden verursacht haben konnte, ohne Ergebnis geblieben war. Jenseits der Tankstelle lag freies Land. Wenn er an Sawyers Stelle gewesen und gerade einem Mann den Schädel eingeschlagen hätte, würde er die Tatwaffe mitten in ein Brombeerdickicht geschleudert oder in einem stehenden Tümpel versenkt haben. Was Sawyers Drohungen anging, sie waren das Übliche, was man so zu hören bekam. Falls der Mann unschuldig war, tat es Markby Leid für ihn. Trotzdem mussten sie der Spur folgen – auch wenn es mehr als wahrscheinlich schien, dass jedermanns Zeit und Anstrengungen verschwendet worden waren. Pearce seufzte. Er hatte das Mittagessen am Sonntag versäumt, und als er schließlich nach Hause gekommen war, hatten Tessa und ihre Schwester vor dem Fernseher gesessen und den abendlichen Spielfilm angesehen. Sie waren voll mit Sherry und Groll gegen ihn gewesen.
»Er streitet nicht ab, dass er Penhallow wegen des Grundstücks angesprochen hat. Penhallow hat sich geweigert zu verkaufen, doch Sawyer hat es nicht als sein letztes Wort gesehen. Er meint, er wäre zuversichtlich gewesen, ihn irgendwann überreden zu können. Ich sehe keinen Weg, wie wir das widerlegen sollten. Sawyer hat es eben so gesehen, und es ist seine Meinung. Das Schwierigste wäre gewesen, sagt er, Penhallow überhaupt zu erwischen, um mit ihm über die Angelegenheit zu reden. Der Mann wäre ja ständig unterwegs gewesen, irgendwo in Europa.« Markby blickte überrascht auf.
»Hat er Penhallow während seines letzten Aufenthalts zu Hause gesprochen?«
»Er sagt, er hätte ihn eines Morgens an der Tankstelle gesehen. Penhallow hätte tanken wollen. Sawyer hätte ihn gefragt, ob er seine Meinung geändert hätte, und Penhallow hätte geantwortet, ich zitiere: ›Sind Sie immer noch hinter diesem Stück Land her, Harry? Ich sagte Ihnen doch bereits, ich bin nicht an einem Verkauf interessiert.‹ Sawyer ist entweder ein unverbesserlicher Optimist oder ein wenig langsam von Begriff, je nachdem, wie man es betrachtet, wenn er diese Antwort nicht als endgültige Absage interpretiert hat. Er ist fest überzeugt, wenn er Penhallow nur genug Zeit gegeben hätte, dann würde er schon Interesse entwickelt haben. Er hätte Penhallow mürbe gemacht. Er war überzeugt, dass er bereits soweit war und ihn bei seinem nächsten Besuch zu Hause dazu hätte bringen können, das Land zu verkaufen.«
»Gibt es Zeugen für diese Unterhaltung?« Pearce schüttelte den Kopf.
»Trotzdem, es ist eine Möglichkeit, oder nicht? Was halten Sie davon? Sawyer beschloss, einen Versuch zu unternehmen, Penhallow bei seinem letzten Aufenthalt zu Hause zu überreden. Die Dinge lagen lange genug in der Schwebe, und er wollte, dass sie geregelt wurden. Er wusste nicht, wann Penhallow wieder nach Hause kommen würde. Also lauerte er hinten im Garten von Tudor Lodge. Kate Drago hat uns erzählt, sie hätte eine Gestalt gesehen, die sie beobachtet hätte. Sie hätte es mit der Angst zu tun bekommen und wäre geflüchtet. Vielleicht war Sawyer diese Gestalt. Die junge Frau war – ihren eigenen Worten zufolge – davongelaufen, und Sawyer nutzte seine Chance, um unter vier Augen mit Penhallow zu reden. Er durchquerte den Garten, klopfte an der Küchentür, und Penhallow, im Glauben, dass seine Tochter zurückgekehrt wäre, machte auf. Sawyer bettelte Penhallow an, ihm das Land zu verkaufen. Doch Penhallow hatte einen schweren Tag hinter sich, nachdem das Mädchen unerwartet aus dem Nichts aufgetaucht war, und er war nicht in der Stimmung, Sawyer zuzuhören. Wahrscheinlich hat er ihm bedeutet, dass er verschwinden solle. Sawyer verlor die Kontrolle und griff ihn an – mit einer Waffe, die wir noch nicht gefunden haben.« Pearce nickte.
»Für mich ergibt es eine Menge Sinn. Ich würde sagen, Sawyer ist unberechenbar.«
»Oh, es ergibt eine Menge Sinn, ohne Zweifel«, stimmte Markby ihm zu.
»Die Frage ist – hat er es getan?«
»Wir könnten ihn aufs Revier bringen und vernehmen«, schlug Pearce vor.
»Warten wir ab, bis wir einen Bericht von der Spurensicherung bezüglich der Werkzeuge haben, die Sie dort zur Untersuchung abgeliefert haben.« Markby lehnte sich zurück und trommelte düster auf seinen Schreibtisch.
»Wir könnten ihn nicht festhalten mit dem Wenigen, was wir bisher gefunden haben. Jeder halbwegs gute Anwalt hätte ihn innerhalb weniger Minuten wieder auf freiem Fuß.« Er streckte die Hand nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch aus.
»Aber wo wir gerade von Anwälten reden, ich frage mich …?«
»Soso, Alan, du hast dir diese Sache also aufgeladen!« Laura lehnte sich auf ihrem Sessel zurück und sah ihren Bruder nachsichtig an.
Die Sonne schien durch die breiten Fenster ihres Büros und glänzte golden auf ihren blonden Haaren, die sauber und ordentlich zu einem französischen Knoten aufgesteckt waren. Eine Schwester, die Partnerin in der führenden Sozietät der Stadt war, bedeutete eine Hilfe und manchmal ein Hindernis. Diesmal war es ein wenig von beidem. Sie war mit der Abwicklung von Andrew Penhallows Hinterlassenschaft beauftragt, und wenn ein reicher Mann ermordet wurde, war es stets nützlich zu erfahren, was im Testament verfügt war. Daher Alans Besuch in der Kanzlei an diesem Morgen. Laura auf der anderen Seite war stets ängstlich darauf bedacht, ihrem Bruder nicht unzulässig entgegenzukommen, und daher würde es wahrscheinlich genauso leicht werden, Informationen aus ihr zu locken wie aus einem Stein. Markby wollte mehr als nur die Hauptpunkte des Testaments. Er brauchte einen Tipp, welche Personen darin bedacht wurden – doch den würde er hier nicht bekommen.
Die gleiche Sonne, die in den Haaren Lauras glänzte, fiel auf den Staub, der sich auf den Bücherregalen sammelte. Gesetzbücher, Reihen um Reihen von Gesetzbüchern, dachte Markby. Wurden sie überhaupt jemals als Nachschlagewerke benutzt, oder dienten sie nur dem Zweck, Mandanten zu beeindrucken? Fragen war zu riskant – Markbys Schwester reagierte nicht nett auf Witze in dieser Richtung.
»Ich habe mir den Fall nicht ausgesucht!«, verteidigte er sich.
»Ich kann immer noch bitten, jemand anderen damit zu betrauen, schätze ich. Andererseits ist Carla Penhallow offensichtlich zufrieden, dass ich die Ermittlungen betreffend den Tod ihres Ehemannes leite. Und alle machen sich große Sorgen wegen der Presse. Ein kleiner Skandal ist ein probates Mittel zur Steigerung der Auflage, und hier verbirgt sich vermutlich genug, um die Auflagen für eine ganze Weile oben zu halten.«
»Hmmm …« Laura entschied sich zu professioneller Diskretion.
»Ich darf selbstverständlich keine Kommentare zu einem Mandanten abgeben. Du möchtest mehr über das Testament erfahren. Ich habe bereits mit den beiden Haupterben gesprochen, und sie haben keine Einwände, wenn ich dir das Testament zeige, bevor es eröffnet wird. Allerdings sollte ich dich informieren, dass es wahrscheinlich eine Reihe von Komplikationen geben wird.«
»Kate Drago«, sagte Markby.
»Sie hat einen Anspruch auf einen Teil des Erbes, richtig?«
»O ja. Falls sie ist, wer sie zu sein behauptet. Früher einmal war das nicht so. Doch heutzutage bedeutet eine nicht anerkannte Vaterschaft längst kein Hindernis mehr für eine Erbschaft. Ich hatte bereits einen Anruf von ihrem Rechtsvertreter, einem Mr Green. Vielleicht solltest du dich mit ihm unterhalten, was ihre Seite der Angelegenheit betrifft.«
»Und wer sind nun zum gegenwärtigen Zeitpunkt die beiden Haupterben von Andrew Penhallow?« Die Sonne schimmerte auf einem winzigen Staubkorn auf dem Revers von Lauras navyblauem Geschäftskostüm. Sie klopfte es ab.
»Mrs Penhallow und ihr Sohn Luke. Luke erhält eine beträchtliche Summe Geldes, das bis zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag treuhänderisch verwaltet wird. Sein Vater ging davon aus, dass Luke bis dahin seine Ausbildung abgeschlossen hat. Sobald er fünfundzwanzig ist, wird alles an ihn ausgeschüttet, was der Treuhandfonds an Werten enthält. Es ist – es ist wahrscheinlich eine ziemlich große Summe, aber das bleibt unter uns. Außerdem hat Andrew der Haushälterin und ein oder zwei anderen Personen kleinere Geldbeträge vermacht. Der Löwenanteil geht direkt an Mrs Penhallow, einschließlich Tudor Lodge.« Markby blickte überrascht auf.
»Wieso? War sie denn nicht bereits Mitbesitzerin?«
»Nein. Mr Penhallow hat das Haus kurz vor der Hochzeit der beiden erworben. Er ist allein in der Besitzurkunde eingetragen.« Markby runzelte die Stirn. Hatte Penhallow seine Zweifel gehabt, selbst damals schon? Hatte er sich vielleicht gefragt, ob er die richtige Frau heiratet, und versucht, auf diese Weise die beträchtliche Investition in Tudor Lodge zu schützen? Laut fragte er:
»Wird Katherine Drago in diesem Testament erwähnt? Oder ihre Mutter, Helen Drago?«
»Mit keiner Silbe. Doch nach dem Anruf von heute Morgen gehe ich davon aus, dass Katherine Drago, die Tochter, dieses Testament aller Wahrscheinlichkeit nach anfechten wird. Du solltest dich wirklich mit Mr Green unterhalten, Alan.«
»Ich kenne Green bereits«, sagte Markby verdrießlich.
»Ein aalglatter Bursche.«
»Es wäre unprofessionell von mir, wenn ich dazu Stellung bezöge.«
»Aber es würde dir nichts ausmachen, nehme ich an, etwas zu der Tatsache zu sagen, dass Mrs Penhallow die angebliche Tochter ihres Mannes in das Haus der Familie eingeladen hat?«
»Nein, macht es nicht!«, schnappte Laura errötend.
»Ich bin nicht glücklich darüber, das gestehe ich ein. Aber ich kann dir nicht sagen, was ich meiner Mandantin im Hinblick darauf geraten habe.« Markby seufzte.
»Also schön. Jedenfalls danke für deine Hilfe.«
»Kommt ihr am Samstag zum Mittagessen? Du und Meredith? Paul hat eine ganze Menge neuer Ideen, was eine gesunde Küche angeht.«
»Ich weiß. Ich habe ihn getroffen, als er mit dem Fahrrad bei einem Bauern einkaufen war. Er hatte eine Kiste voller schmutzigem Gemüse dabei.«
»Einfaches Essen, keine Haute Cuisine«, entgegnete Laura.
»Ich hätte gedacht, das wäre genau nach deinem Geschmack?«
Der Montag verging auf Tudor Lodge ohne besondere Ereignisse. Es gab einen kurzen Zwischenfall am Morgen, als ein unerschrockener Paparazzo in einen Baum kletterte und munter ein Bild nach dem anderen schoss, bis er entdeckt, heruntergezerrt und von Luke unsanft des Grundstücks verwiesen wurde.
Luke war froh über die Gelegenheit, ein wenig von seiner angestauten Energie abzulassen. Er hatte sich gefühlt, als müsse er explodieren, falls nicht bald irgendetwas geschah und diesem ganzen Chaos ein Ende bereitete. Ihr Hausgast, das Mädchen, hielt sich unauffällig im Hintergrund. Sie erschien zu den Mahlzeiten und verschwand hinterher sofort wieder. Fein, meinetwegen, dachte er. Vielleicht hat sie ja endlich kapiert, dass niemand sie hier haben will.
Nichtsdestotrotz war er müde, als der Abend kam. Es war nicht die Müdigkeit, die von Arbeit herrührt, sondern Erschöpfung, die den Verstand übermannt. Es war erst neun Uhr, doch das Mädchen war bereits nach oben gegangen, und er schätzte, dass sie sich nicht vor dem nächsten Morgen wieder blicken lassen würde. Seine Mutter hatte sich in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen, wo auch ihr Faxgerät und der Computer standen.
Luke ging hin, klopfte an die Tür und streckte den Kopf hinein. Seine Mutter saß in einem alten grünen Morgenmantel vor dem Computer und arbeitete offensichtlich. Eine Lampe brannte und versorgte das Zimmer mit Licht, doch der flackernde Monitor erhellte ihre Figur von hinten und tauchte ihre Umrisse in eine seltsam bläuliche Aura.
»Hey«, sagte er.
»Mach mal Pause.«
Sie blickte nicht auf.
»Ich schreibe Briefe, mein Lieber. Ich muss so viele schreiben … so viele Leute benachrichtigen.« Ihre Hände sanken von der Tastatur in den Schoß, wo sie reglos liegen blieben, doch sie starrte unverwandt weiter auf den Bildschirm. Sie haben es inzwischen längst alle gehört!, schrie Luke innerlich. Jeder weiß Bescheid, du musst ihnen nicht extra schreiben! Doch er wusste, dass sie darüber schreiben wollte, dass sie versuchte, sich den Schmerz von der Seele zu schreiben. Und niemand musste sie daran erinnern, dass alle längst Bescheid wussten, nicht nach dem Zwischenfall mit dem Fotografen im Baum an diesem Morgen.
»Ich gehe jetzt zu Bett«, sagte er.
»Alles ist abgesperrt. Nur die Alarmanlage muss noch eingeschaltet werden.«
»Keine Sorge, mein Liebling, ich schalte sie ein, bevor ich nach oben gehe.« Sie nahm die Hände aus dem Schoß und begann wieder zu tippen. Über das Klappern der Tastatur hinweg und das Tanzen der Buchstaben auf dem Bildschirm fragte Luke:
»Du bleibst nicht mehr lange auf, oder, Mum? Versprich es mir!«
»Ich verspreche es«, sagte sie. Damit ließ er sie alleine, unzufrieden über das Ergebnis des Gesprächs wie über alles andere auch. Es stand kaum zu erwarten, dass er gut schlafen würde. Eine Weile döste er unruhig vor sich hin, nur um mitten in der Nacht in der dumpfen Stille des großen Hauses aufzuwachen. Er richtete sich im Bett auf, schaltete die Nachttischlampe ein und schwang die Beine unter der Decke hervor. Er schlüpfte in eine alte Jeans und einen Pullover und steckte die Füße in ausgetretene Pantoffeln. Was für einen Sinn hatte es, wenn er weiter vergeblich einzuschlafen versuchte? Er fühlte sich aufgedreht wie ein Uhrwerk. Das beleuchtete Ziffernblatt seiner Nachttischuhr verriet ihm, dass es kurz nach Mitternacht war, im Fernsehen liefen um diese Zeit in der Regel alte Filme. Die Schalttafel für die Alarmanlage befand sich am Fuß der Treppe. Er rannte nach unten, um sie abzuschalten, bevor sie losgehen konnte, nur um festzustellen, dass seine Mutter wohl doch vergessen hatte, den Alarm zu aktivieren. Luke stieß ein ärgerliches Brummen aus, doch er machte ihr keinen Vorwurf. Er hätte warten sollen, bis sie zu Bett gegangen war, und es selbst tun. Zuerst ging er in die Küche, wo er sich etwas Heißes zu trinken machen wollte. Er tappte durch die Dunkelheit und drückte sich an der Wand entlang, wo die alten Dielenbretter am wenigsten knarrten. Das Haus war ihm so vertraut wie seine eigene Haut. Er benötigte genauso wenig Licht, um sich zurechtzufinden, wie ein Blinder es benötigt hätte. Als er die Küche erreicht hatte, schaltete er trotzdem das Licht in der Dunstabzugshaube ein. Es lieferte ihm gerade genug Helligkeit, damit er sehen konnte, was er tat. Er setzte den elektrischen Wasserkocher auf, nahm einen Becher aus dem Schrank und das Glas mit Instantkaffee aus dem Regal über der Arbeitsfläche. Plötzlich dämmerte ihm, dass er die gleichen Handlungen ausführte wie sein Vater in seiner letzten Nacht. Dad war ebenfalls in der Küche gewesen und hatte sich heißes Wasser gemacht, als irgendetwas ihn dazu bewogen hatte, die Hintertür zu öffnen und nach draußen in den dunklen Garten zu treten, wo ihn der Tod ereilt hatte. Luke war bereit, Kates Version der Ereignisse jener Nacht Glauben zu schenken. Dass sie zurückgekehrt und dann geflüchtet war, bevor sie Dads Aufmerksamkeit erwecken konnte, in die Flucht geschlagen vom Anblick einer undeutlichen Gestalt, die im Schatten des Gartens gelauert hatte. Seine Mutter jedenfalls glaubte ihr. Soweit er wusste, ging auch die Polizei davon aus, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, denn Kate war nicht verhaftet worden. Und um ehrlich zu sein, Luke konnte sich nicht vorstellen, dass Kate imstande war, eine Waffe mit ausreichender Kraft zu schwingen, um … Er verdrängte das Bild aus seinen Gedanken. Ungebeten kamen ihm Fragen in den Sinn: Was, wenn sie nicht allein gewesen ist? Was, wenn sie irgendwo draußen in der Dunkelheit einen Kumpanen hatte? Luke stockte mitten in der Bewegung, gepackt von Entsetzen. Als er sich beruhigt hatte, versuchte er das Problem mit kühler, akademischer Disziplin anzugehen, wie seine Tutoren es ihn gelehrt hatten. Er zählte die Argumente dafür und dagegen auf. Es war eine Möglichkeit, an die bisher niemand gedacht zu haben schien – was nicht ausschloss, dass es so gewesen sein konnte. Wer jedoch hätte der Kumpan sein können, der dort draußen in der Nacht gelauert hatte? Wer sonst hätte einen Grund haben können, ihr zu helfen? Wen hätte sie bestechen können, falls das dazu erforderlich gewesen war? Was war mit diesem Anwalt, der ihre Vertretung übernommen hatte? Er war überraschend schnell nach Bamford gekommen. Wie es aussah, ging sein Interesse weit über das rein Berufliche hinaus. Vielleicht, überlegte Luke, vielleicht sollte ich die Polizei fragen, ob sie daran gedacht hat, diesen Green zu vernehmen? Dann überlegte er bestürzt, dass er eigentlich nicht so über jemanden denken sollte, der seine Halbschwester war. Trotz seiner Herausforderung an Kate, es zu beweisen, zweifelte er nicht an ihrer Verwandtschaft. Er wusste, dass es die Wahrheit war. Die wirklich schlimmen Dinge, die am meisten wehtun, sind in der Regel wahr. Luke ging mit seinem Kaffeebecher zu dem Windsorstuhl, in welchem (obwohl er es nicht wissen konnte) Kate bei ihrem ersten Besuch in jener verhängnisvollen Nacht gesessen hatte. Er ließ den Blick durch die Küche wandern. Sie war in einem geschmackvollen Landhausstil eingerichtet – oder zumindest dem, was Hochglanzmagazine als Landhausstil propagierten. Eine prachtvolle Sammlung von französischen Le-CreusetTöpfen, italienischen Fayence-Tellern, Utensilien und Gerätschaften und jeder nur denkbaren Küchenhilfe, kaum voneinander zu unterscheiden im Dämmerlicht. Ihm kam zu Bewusstsein, dass nichts davon echt war. Niemand hatte je richtig in dieser Küche gekocht, in seinem ganzen Leben nicht, solange er sich erinnern konnte – es sei denn, man zählte Irene mit ihren Gemüsesuppen und leckeren Kuchen. Seine Mutter wich jedem Kochen aus, wenn es irgendwie ging, und das Einzige, was sie in dieser Küche zubereitete, war tiefgekühlte Fertignahrung, die sie in die Mikrowelle schob, wie sie es an diesem Abend getan hatten. Wurst aus dem Delikatessenladen mit Salat und Biskuits waren der Gipfel ihrer kulinarischen Künste, doch die Familie war trotzdem nicht verhungert. Lukes erste Begegnung mit der traditionellen Küche, arbeitsaufwändig gebratenes Fleisch und Gemüse, frisch zubereitet, hatte auf dem Internat stattgefunden. Er erinnerte sich an den Schock, mit dem er seine ersten Teller betrachtet hatte. Haufenweise Gemüse, ekelhaftes Fleisch, graues Kartoffelpüree und dicke, mehlige Soße – er erinnerte sich an den Geschmack und Geruch, als wäre es gestern gewesen. Und diese altmodischen Puddings, alle möglichen Sorten, mit einer Schicht Marmelade darüber und dicker gelber Vanillesoße, alles in großzügigen Portionen! Er hatte so etwas noch nie zuvor gesehen, und es war ihm alles als eine sehr merkwürdige Art erschienen, sich zu ernähren. Luke erhob sich aus dem recht engen Lehnstuhl, brachte seinen Becher zum Spülbecken, ließ Wasser darüber laufen und stellte ihn umgekehrt auf das Ablaufbrett. Anschließend schaltete er die Lampe unter der Dunstabzugshaube aus und machte Anstalten, die Küche zu verlassen. Doch als er mitten in der Küche stand, meinte er Stimmen zu hören. War seine Mutter etwa noch nicht zu Bett gegangen? Oder war Kate nach unten gekommen in der Absicht, genau wie er, fernzusehen? Luke betrat die Dielenhalle, und die Stimmen verstummten urplötzlich. Unter keiner der Türen schimmerte Licht hindurch. Trotzdem überprüfte er das Fernseh- und Mutters Arbeitszimmer. Beide waren leer. Mutters Computer war abgeschaltet. Über der Tastatur lag die Staubschutzhaube aus Plastik. Ihre Papiere und Utensilien waren ordentlich weggeräumt. Sie war ein ordentlicher Mensch. Hatte er sich die Stimmen vielleicht nur eingebildet? Zögernd kehrte er in die Küche zurück und blieb in der Dunkelheit stehen, während er die Ohren spitzte und angestrengt lauschte. Da war es wieder. Ein leises, fernes Murmeln, allerdings nicht im Haus, sondern draußen im Garten! Seine Nackenhaare richteten sich auf. Er verstand keine einzelnen Worte und konnte nicht einmal unterscheiden, ob es Männer oder Frauen waren, die dort redeten, nur das beharrliche leise Murmeln einer verstohlenen Unterhaltung. Er ging zum Fenster, doch draußen war alles dunkel, kein Mondlicht in dieser Nacht, kaum etwas zu erkennen. Luke wünschte sich, er hätte etwas sehen können. Eine abergläubische Furcht stieg in ihm auf, als ihm die alte Geschichte von dem Edelmann und seiner puritanischen Liebsten in den Sinn kam. Einbrecher waren etwas, womit er fertig werden konnte, doch Erscheinungen aus der Vergangenheit waren etwas ganz anderes. Luke riss sich zusammen. Irene Flack mochte an einen solchen Unsinn glauben. Er nicht. Er trat zum nächsten Lichtschalter und drückte ihn herunter. Licht durchflutete den Raum und fiel durch das Fenster nach draußen, wo es breite Bahnen auf den Rasen zeichnete. Der Garten verwandelte sich von einem Augenblick zum anderen von einem schwarzen, undurchdringlichen Etwas in eine von Scheinwerfern erhellte Bühne, mit Büschen, die in geisterhaftes Silber getaucht waren, und Baumstämmen vor einem unheimlichen Hintergrund. Doch nichts Lebendiges war zu sehen. Es war eine Bühne, von der bereits alle Schauspieler abgegangen waren. Nach einem Augenblick schaltete Luke das Licht wieder aus. Der Übergang zu völliger Dunkelheit geschah so abrupt, dass es wie ein Schock war. Luke überlegte, ob er eine Taschenlampe holen und nach draußen gehen sollte, um nach dem Rechten zu sehen. Doch der Garten bot nahezu unbeschränkte Möglichkeiten, sich zu verstecken, und falls sich tatsächlich jemand dort draußen verbarg, würde er ihn wahrscheinlich nicht entdecken. Die Eindringlinge auf der anderen Seite hätten nicht die geringste Mühe, ihn zu sehen, während er mit seiner Taschenlampe umherirrte, genau wie Dad … Luke stieß ein leises Stöhnen aus. Das Gefühl von Verlust versetzte ihm einen schmerzhaften Stich in der Brust. Übelkeit wogte in ihm auf. Einen Augenblick lang glaubte er, tatsächlich ohnmächtig werden zu müssen, etwas, das ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert war. Er hatte geglaubt zu wissen, was der Tod seines Vaters für ihn bedeutete, doch er hatte die Endgültigkeit von allem noch nicht begriffen, nicht bis zu diesem Augenblick. Er stolperte die Treppe hinauf nach oben und warf sich in seinen Sachen auf das Bett. In seinem Elend vergaß er die Alarmanlage völlig, die nutzlos am Fuß der Treppe wartete, genau wie in jener Nacht, in der sein Vater gestorben war.
KAPITEL 14
DAS WETTER hatte sich zwar gebessert, während die Ermittlungen in jenem Sumpf der Verzweiflung zu versinken drohten, der häufig nach den ersten hastigen Befragungen und dem Sammeln der offensichtlichen Beweise herrschte. Die Forensik benötigte ihre Zeit, wie bereits angekündigt, um die Werkzeuge aus Sawyers Werkstatt zu untersuchen. Bisher war an keinem Blut, Haut oder sonst irgendein verdächtiges Material gefunden worden. Es gab absolut keinen Hinweis, dass eines davon für etwas anderes als die Reparatur von Fahrzeugen benutzt worden war. Markby war inzwischen sicher, dass sie auf dieser Spur nicht weiterkamen. Die Verhältnisse auf Tudor Lodge blieben angespannt. Bis es Donnerstag wurde, waren alle soweit, dass sie dem Druck zu entkommen trachteten. Beim Frühstück verkündeten sowohl Carla als auch Luke, dass sie den ganzen Tag außer Haus sein würden.
»Ich muss nach London«, sagte Carla.
»Ich habe ein paar Besprechungen wegen der neuen Sendung.«
»Kann das nicht warten?«, fragte Luke grob.
»Sie wissen doch … sie wissen doch, was hier los ist, oder nicht?«
»Sie wissen es sogar ganz genau, Liebling. Aber die Fernsehwelt bleibt nicht deswegen stehen, weil ein Mensch Probleme hat. Ich muss nach London. Ich habe inzwischen drei Faxe erhalten, alle wegen des gleichen Themas. Es ist besser, wenn ich hinfahre und die Probleme persönlich angehe.« Luke schob ein Stück verbrannten Toast auf den Tellerrand.
»Ich hatte überlegt, ob ich heute nach Cambridge fahren und mit meinem Tutor reden soll. Ich meine, er weiß, was hier passiert ist, wie deine Fernsehleute, aber auch ich muss ein paar Dinge regeln. Wenn du allerdings auch weg bist …« Er sah fragend zu Kate.
»Keine Sorge, ich komme zurecht«, erwiderte sie ruhig.
»Fahrt ihr nur.« Es entging ihr nicht, wie erleichtert beide wirkten. Tatsächlich tat es Kate nicht Leid, allein in dem großen Haus zu sein. Allein – bis auf Mrs Flack, hieß das. Es verschaffte Kate eine Gelegenheit, ungestört mit Freddie Green zu telefonieren.
»Ich habe mich mit dem Testamentsvollstrecker in Verbindung gesetzt und Verwahrung eingelegt«, berichtete Green.
»Was ist das?«, fragte sie. Sie bemerkte eine Bewegung draußen vor der Tür und sagte rasch:
»Warte eine Sekunde, ja?« Nach einigen Augenblicken fuhr sie fort:
»Okay, du kannst weiterreden. Es war nur die alte Schachtel von Haushälterin auf dem Weg die Treppe hinauf. Die Tür ist zwar geschlossen, aber ich will sicher sein.«
»Prinzipiell bedeutet es, dass wir unser Interesse am Testament bekundet haben und sie es nun nicht einfach so können, ohne uns zu informieren.«
»Luke hat gesagt, ich müsste beweisen, dass ich tatsächlich Dads Tochter bin. Ich habe ihm geantwortet, ich wäre bereit zu einem DNS-Test.«
»Dazu muss es nicht einmal kommen. Meiner Meinung nach hat dein Vater durch sein Verhalten während deiner Kindheit eindeutig gezeigt, dass er dich als seine Tochter betrachtet. Seine Witwe hat deinen Status implizit anerkannt, indem sie dich zu sich ins Haus eingeladen hat. Wichtiger noch, Penhallow war bereit, dir einen regelmäßigen Unterhalt zu zahlen, eine Apanage, um dich zu unterstützen, als er getötet wurde, und du hast ohne jeden Zweifel ein Recht darauf, dass dieser Unterhalt weiter gezahlt wird.« Freddie Green zögerte, dann fragte er ein wenig unsicherer:
»Was machen die Bullen?«
»Weiß Gott, ich habe keine Ahnung! Sie waren bei der Tankstelle hier in der Nachbarschaft und haben dem armen Kerl die Werkstatt auf den Kopf gestellt.«
»Gut, sollen sie sich weiter beschäftigen. Es ist offensichtlich, dass sie nicht genügend gegen dich in der Hand haben. Trotzdem, um auf der sicheren Seite zu sein, denke ich, ich sollte mich mit Sir Montague Ling unterhalten.«
»Du bist mir eine große Unterstützung!«, schnappte Kate und legte auf. Das Telefon läutete fast im gleichen Augenblick wieder.
»Lass dich nicht unterkriegen, Kate!«, drängte Freddie Green.
»Alles kommt in Ordnung, glaub mir. Aber wir müssen jede Eventualität abdecken.«
»Danke, Freddie«, erwiderte sie.
»Tut mir Leid, dich so angefahren zu haben, aber es zerrt wirklich an meinen Nerven.«
»Alles wird wieder gut, Kate«, wiederholte er.
»Alles kommt wieder in Ordnung, vertraue mir.« Nach dieser Unterhaltung ging sie zu Mrs Flack und erbot sich, ihr bei den Hausarbeiten zu helfen, doch Mrs Flack lehnte höflich ab. Also machte sich Kate zu Fuß auf den Weg ins Stadtzentrum. Es ist wahrscheinlich nur Einbildung, sagte sie sich, doch sie hatte das Gefühl, als würden alle Leute sie anstarren. Es war eine kleine Stadt, und ein Mord sorgte hier gewiss über Wochen hinweg für Gesprächsstoff. Kate flüchtete zurück in die Sicherheit von Tudor Lodge.
»Wie steht es mit dem Mittagessen?«, wollte Mrs Flack wissen, die breitbeinig in der Küchenschürze in der Haustür stand, als Kate ankam.
»Ich habe schon in der Stadt gegessen«, log Kate.
»Oh, na meinetwegen«, sagte Mrs Flack.
»Dann gehe ich jetzt nach Hause. Mein eigener Haushalt ist liegen geblieben, weil ich am Wochenende hier war. Sie kommen wirklich zurecht?«
»Keine Sorge, ich komme zurecht.« Kate sah zu, wie Mrs Flack ging. Danach marschierte sie in die Küche und bereitete sich ein Käsesandwich und einen Becher Kaffee, um sich anschließend mit beidem in das Fernsehzimmer zu begeben. Sie hatte sich gerade gesetzt, als die Türglocke läutete. Sie spähte durch ein Fenster nach draußen. Vor der Haustür stand ein Mann, doch die Veranda verhinderte, dass sie ihn erkennen konnte. Vielleicht war er von der Presse. Sie ging zur Tür, legte die Kette vor und öffnete einen Spaltbreit.
»Oh. Verdammter Mist«, murmelte sie unterdrückt, löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür weit.
»Hallo«, sagte Alan Markby.
»Genau die Person, mit der ich sprechen wollte.« Er hielt ein Paket hoch.
»Ich habe Ihnen Ihre Kleidung mitgebracht.«
»Ich kann Ihnen einen Kaffee machen, wenn Sie mögen«, bot Kate an.
»Außerdem gibt es einen Barschrank, dort drüben.« Sie deutete auf Andrews Barschrank in der Ecke des Fernsehzimmers. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn ins Haus zu lassen. Ausgerechnet heute musste er kommen, während Carla und Luke unterwegs waren – oder hatte er Bescheid gewusst? Hatte er gewusst, dass er sie alleine antreffen würde? Das Dumme war, sie wusste nicht, was er wusste. Allein sein Anblick auf der Türschwelle in dieser grässlichen alten Barbourjacke, die fast jegliches Wachs verloren hatte, mit dem in braunes Papier eingewickelten Paket! Was war das für ein Polizeibeamter, der so aussah? Und dem es zugleich gelang, wie sie einräumen musste, unverkennbar den Eindruck von Oberklasse zu erwecken? Andererseits war dies ein Mann, der mit ihrem Vater zusammen zur Schule gegangen war. Zu behaupten, dass er nicht aussah wie ein Polizist, war eine glatte Untertreibung. Er sah aus wie der verdammte Lord der Grafschaft persönlich an seinem freien Tag.